Die Macht des Erzählens

LITERATUR Ein behaartes Frauenbein, und ab geht die Erinnerung. Drei Tage lang lasen und diskutierten die Stars der polnischen Literaturszene in der Akademie der Künste am Pariser Platz

Als die Karriere von Stanislaw Retro unaufhaltsam den Bach hinuntergeht, setzt er auf einen Imagewandel und propagiert konservative Werte, anstatt weiterhin hedonistische Starallüren zu kultivieren

VON PHILIPP GOLL

Aus dem Vortragssaal der Akademie der Künste am Pariser Platz fällt der Blick durch die Fenster auf das Brandenburger Tor. Menschen lassen sich davor fotografieren, Blitzlichter erhellen das Bauwerk. Touristentrauben schieben sich zwischen den Säulen hindurch und verschwinden im Dunkel.

Drei Abende lang konnte man diese Szenerie beobachten, während die Stars der polnischen Gegenwartsliteratur auf dem Podium des Vortragssaals saßen. Sie waren zum polnisch-deutschen Literaturdialog unter dem Titel „Rodzinna Europa“ (Heimat Europa) geladen. Und da immer wieder das Umbruchjahr 1989 genannt wurde, auch als Startmarke für eine neue Epoche in der Literatur, schieben sich ständig Bilder des Mauerfalls vor die Szenerie am Brandenburger Tor: Menschen, die über die Mauer klettern, in Empfang genommen werden von jubelnden Westberlinern.

Naivität unterstellt

Doch diese ikonischen Bilder der „Wende“, schreibt der kroatische Philosoph Boris Buden in seinem 2009 erschienenen Buch „Zone des Übergangs“, repräsentierten immer den Blick der anderen, derer, die nicht aktiv am Umsturz teilnahmen. Der Enthusiasmus der passiven Beobachter für die Akteure der „samtenen Revolution“ resultiere allein aus einer Identifikation mit jenen, denen man eine naive Faszination für die westliche liberale Demokratie unterstellte. So ließen sich auch etwaige Zweifel am eigenen System wenigstens für kurze Zeit überwinden. Sollten die SchriftstellerInnen aus dem jungen EU-Mitgliedsland Polen nun in die Akademie eingeladen worden sein, um dem Publikum diesen Blick zu bestätigen?

Wenn ja, dann ging das nicht ganz auf. Stattdessen bekam es aufschlussreiche Gespräche über Poetiken polnischer Gegenwartsliteratur zu hören. Die Erfahrung einer produktiven Differenz in der Kultur spielt gleich für mehrere polnische AutorInnen eine zentrale Rolle. So etwa für Stefan Chwin, Jahrgang 1949, auf den die deutschen Spuren in der Stadt Danzig trotz oder gerade wegen der antideutschen Gesinnung seiner vom Naziterror geprägten Eltern eine große Faszination ausübten. In seinem Roman „Tod in Danzig“ (1998) brach er das polnische Tabu, über die deutsche Vergangenheit der Stadt zu schreiben. Bei Joanna Bator, die in diesem Jahr mit ihrem Roman „Sandberg“ debütierte, war der Blick von außen auf die eigene Kultur für das Schreiben ausschlaggebend. Nach mehreren Aufenthalten in Japan, wo sie einem unvertrauten Zeichensystem hilflos ausgeliefert war, sah sie sich der eigenen polnischen Kultur entfremdet. Was sie schließlich zu ihrem Familienroman inspirierte, sei die behaarte Wade einer polnischen Frau gewesen, die sie wie ein Zeichen aus der eigenen Kindheit las, als es in Polen noch nicht Mode war, sich die Beine zu rasieren.

Andrzej Stasiuk, dessen aktueller Roman „Hinter der Blechwand“ als Beschreibung der „wilden“ Peripherie und als Bericht über den Einzug des Kapitalismus in Osteuropa interpretiert wird, verweigerte am ersten Abend jegliche Aussage über das Wesen des Kontinents. Ihm ginge es, betonte er, zuallererst um die „Macht der Narration“; darum, wie seine „plebejischen Helden“ (so seine Gesprächspartnerin Katja Lange-Müller über das Figurenrepertoire Stasiuks) ihre Biografie mit Sinn durchwirkten. Er sieht sie als „Volks-Homers“, deren Charaktere er in den 1980er Jahren während seines Gefängnisaufenthaltes ausführlich habe studieren können, da man sich die Zeit in erste Linie mit Geschichtenerzählen vertrieb. „Literatur“, sagt Stasiuk, „kann die Wirklichkeit erlösen.“

Keine europäischen Visionen

Auch die HoffnungsträgerInnen der polnischen Literatur haben offenbar ein größeres Interesse an polnischen Realitäten als an europäischen Visionen. Für sie gilt, erst einmal die „kleinen Höllen“ zu beschreiben, wie Daniel Odija das provinzielle Setting jener polnischen Kleinstadt beschrieb, aus der der Protagonist seines Romans „Das Sägewerk“ (2006) ausbrechen möchte.

Manches, was den Autoren naheliegt, ist als Thema dennoch ungewohnt. Die 1983 geborene Autorin Dorota Maslowska macht die eigene Karriere zum Thema und beschreibt in „Die Reiherkönigin“ die hetzerische Medienmaschinerie. Der Held des durchgehend als Rap verfassten Romans heißt Stanislaw Retro. Als seine Karriere unaufhaltsam den Bach hinuntergeht, setzt er auf einen Imagewandel und propagiert konservative Werte, anstatt weiterhin hedonistische Starallüren zu kultivieren. Gefragt, welchen Weg sie selbst präferiere, antwortete Dorota Maslowska übrigens, sie wisse auch nicht wie man leben solle. Es ginge ihr rein um Sprache.