Gewagte Multiplikationen

VORTRAG Die Historikerin Miriam Gebhardt sprach in Berlin über Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg – leider mit fragwürdigen Zahlenangaben

Bundesweit gibt es ein einziges Mahnmal für die Frauen, die nach Kriegsende vergewaltigt wurden

Als 1945 die Soldaten kamen, brachten sie nicht bloß Freiheit, Kaugummi und später Rock ’n’ Roll. Amerikanische GIs und französische Soldaten vergewaltigten, britische wohl weniger. So sieht es die Historikerin Miriam Gebhardt, Professorin an der Universität Konstanz. In ihrem gerade erschienenen, populären Sachbuch „Als die Soldaten kamen“ will sie mit vier vermeintlichen Vorurteilen aufräumen. Erstens seien Vergewaltigungen nicht bloß in Trecks auf der Flucht vorgekommen, sondern in fast jedem Dorf – als „flächendeckende Erfahrung einer Generation von Frauen“.

Zweitens widerspricht sie Erich Kubys in den sechziger Jahren im Spiegel verbreiteten Thesen, vergewaltigte Frauen in Deutschland hätten nach vorne geschaut, sich auf den Aufbau konzentriert und die Gewalterfahrung dadurch rasch überwunden. Gebhardt hält solchen Thesen Studien zu Selbstmorden und lebenslangen Traumata entgegen. Drittens widerspricht sie der gängigen Vorstellung, Männer hätten geschwiegen. Es sei durchaus geredet worden, bloß nicht mit Empathie.

Die Hauptquellen in Gebhardts Buch sind rund 500 Berichte katholischer Priester. Sogenannte Einmarschberichte, die die Geistlichen auf Anweisung des Erzbischofs von München und Freising verfassten – in erster Linie um zu dokumentieren, ob Kirchen geplündert wurden und wie es um die Sitten stand. Dabei kommen, so Gebhardt, in fast jedem Dorf Vergewaltigungen zur Sprache. Die Berichte klingen heute erschreckend nüchtern und schreiben die Schuld oft den vergewaltigten Frauen selbst zu. Viertens möchte Gebhardt mit der Vorstellung aufräumen, Vergewaltigungen seien bloße Racheakte gewesen. Auch Polinnen und Französinnen wurden von Soldaten der Alliierten vergewaltigt.

Mit ihrem Buch hat Gebhardt eine Debatte ausgelöst. Vor allem ihre Zahlen provozieren. 860.000 Vergewaltigungen im gesamten Bundesgebiet zählt sie in der Zeitspanne vom Kriegsende bis 1955. 190.000 davon, so Gebhardt, hätten amerikanische GIs zu verantworten, 50.000 französische Soldaten. In dieser Größenordnung hatten das viele nur sowjetischen Soldaten zugetraut. 190.000 klingt erstmal sehr präzise. „Wäre die Zahl wirklich so hoch, müsste es mehr Spuren geben“, konterte der Spiegel, bevor Gebhardts Buch überhaupt auf dem Markt war.

Gebhardts Zahlen liegen weit über den vom amerikanischen Kriminologen J. Robert Lilly behaupteten 11.000 Fällen, die er aufgrund der offiziellen US-Armeestatistik über Strafverfahren hochrechnete. Zugleich liegt sie deutlich unter dem, was die Filmemacherin Helke Sander in ihrem Film „BeFreier und Befreite“ (1992) ermittelt haben will: Sie sprach von insgesamt 1,9 Millionen missbrauchten Frauen in Ost- und Westdeutschland.

Bei Gebhardts Buchpräsentation am Dienstag in der Berliner Topographie des Terrors fragt man auch zu den umstrittenen Zahlen. Unter den gut 120 Menschen im Publikum sind viele Frauen um die 70. Gebhardt erklärt, sie habe erst bei den Recherchen zum Buch gemerkt, dass es eine Möglichkeit gebe, „neu zu rechnen“: Es gab in allen Bundesländern bald nach Kriegsende bis 1955 Statistiken über Kinder von Besatzungssoldaten. Die Behörden fragten die Mütter auch, ob das Kind durch Gewalt entstanden ist. 1.900 Fälle in der US-Besatzungszone sind auf diese Weise dokumentiert. Schon diese Zahl ist nicht notwendig belastbar, beruht sie doch auf Selbstaussage der Frauen. Gebhardt nutzt sie trotzdem: „Es gibt eine allgemeine Formel, dass von jeder hundertsten Vergewaltigung ein Kind entsteht.“ Und sie treibt den Balanceakt noch weiter: „Nun habe ich es mir ungefähr Pi mal Daumen überlegt, dass es womöglich in der DDR noch mal die gleiche Anzahl von Vergewaltigungskindern gab wie in der Bundesrepublik.“

Gebhardt versteht die Zahl, so relativiert sie jetzt, als Einladung an alle, darüber nachzudenken, ob es vielleicht noch andere Rechenmöglichkeiten gibt. Vielleicht war es aber auch der Versuch, damit einen medialen Coup und breite Aufmerksamkeit zu erzielen? Ohne die konkrete Zahl der 190.000 hätten wohl sehr viel weniger Leute das Buch beachtet.

Eine andere Zahl dagegen lässt sich belegen: Während auf nahezu jedem Friedhof ein Ehrenmal für Wehrmachtssoldaten steht, findet sich bundesweit nur ein einziges Mahnmal für vergewaltigte Frauen im und nach dem Zweiten Weltkrieg, und zwar auf dem ehemaligen Garnisonfriedhof am Columbiadamm in Berlin-Neukölln. Die Gesellschaft befasst sich mit diesem Thema nur zögerlich. Zu lange war es tabu oder von den Rechten besetzt. Es spricht nicht für gelungene Aufarbeitungs- und Erinnerungskultur, dass ein Zahlentrick vonnöten war, um die überfällige Debatte zu beleben, bevor die letzten Opfer sterben. Manche würden vielleicht über ihr Leid noch reden wollen. Zeitzeugeninterviews lehnt Gebhardt allerdings ab.

STEFAN HOCHGESAND