Stunt Girl im Unrechtsdiskurs

PSYCHIATRIE Nellie Blys lesenswerter Bericht aus einer Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts ist ein Zeitdokument. Es ist nun erstmals in deutscher Übersetzung erschienen

VON JOSEFINE HAUBOLD

Gerade einmal 23 Jahre war die Journalistin Nellie Bly alt, als der Verleger Joseph Pulitzer ihr im Jahr 1887 eine ungewöhnliche Story anbot: Unter falschem Namen sollte sie sich in die psychiatrische Anstalt von New York einliefern lassen, um für seine Zeitung, die New York World, einen „einfachen und ungeschminkten Bericht“ über die dortigen Zustände zu verfassen.

Nellie Bly zögerte nicht lange und sagte zu. Ihre Einlieferung plante sie sorgsam. Vor einem Spiegel übte sie vermeintlich wahnsinnig aussehende Grimassen ein und suchte, als ärmlich gekleidete Nellie Brown, ein Behelfsheim für bedürftige Frauen auf. Nachdem sie dort ihre Mitbewohnerinnen über Nacht von ihrem Wahnsinn überzeugen konnte, wurde sie am Morgen von der Polizei abgeholt und einem Richter vorgeführt. Von dort aus gelangte sie über die Station für Geisteskranke im Bellevue Hospital in die Irrenanstalt auf Blackwell’s Island.

Auf der kleinen Insel im East River zwischen Manhattan und Queens befand sich zu jener Zeit nicht nur das berüchtigte New York City Lunatic Asylum, sondern auch ein Gefängnis, ein Pockenkrankenhaus und ein Arbeitshaus. Hier sollte die Journalistin am eigenen Leib erfahren, wie mit den Ausgestoßenen der stetig wachsenden Metropole umgegangen wurde.

Die Schwestern waren sadistisch oder im besten Fall gleichgültig; sie fanden offenbar Gefallen daran, die ihnen anvertrauten Patientinnen seelisch und körperlich zu misshandeln. Das Essen war verdorben und dürftig, die hygienischen Bedingungen gefährlich, und den Kranken wurde warme Kleidung verweigert, obwohl die Räume auch bei Kälte nicht beheizt wurden. Außerhalb der Essens- und Schlafenszeiten waren die Patientinnen gezwungen, ihre Tage still und auf harten Bänken sitzend zu verbringen, ohne die Möglichkeit, sich zu zerstreuen oder Nachrichten aus der Außenwelt zu erhalten.

Schockiert zeigte sich die Erzählerin darüber, dass einige der Insassinnen offenbar ebenso geistig gesund waren wie sie selbst. In der Tat war es zu jener Zeit nicht ungewöhnlich, dass gerade arme oder neu eingewanderte, des Englischen nicht mächtige Frauen, um die sich niemand kümmern wollte oder konnte, kurzerhand für verrückt erklärt und in eine entsprechende Anstalt eingewiesen wurden, aus der sie in den seltensten Fällen wieder herauskamen. Dabei bleibt die Erzählerin trotz ihres mutigen Unternehmens mit ihrer Unterscheidung zwischen „verrückten“ und „gesunden“ Insassinnen der Anstalt ganz dem Psychiatriediskurs ihrer Zeit verhaftet. Ihr Ziel war es nicht, die gängige Vorstellung von Wahnsinn und den Umgang mit psychisch Kranken zu hinterfragen, sondern lediglich, die skandalösen Zustände, unter denen die Patientinnen gehalten werden, ans Licht zu bringen. Dass auch offenbar gesunde Frauen in der Anstalt eingesperrt und wie Kranke behandelt wurden, erschien dabei nur als vermeidbarer Fehler in der üblichen Praxis des systematischen Wegsperrens von psychisch Kranken.

Für Nellie Blys Entlassung war indes gesorgt: Nach zehn Tagen kam sie mit Hilfe eines Anwalts wieder frei. Ihre schockierenden Enthüllungen, die im November 1887 in zwei Teilen in der New York World und bald darauf unter dem Titel „Ten Days in a Madhouse“ als Buch erschienen, machten Günther Wallraffs Großmutter im Geiste über Nacht berühmt und begründeten gleichzeitig eine neue Form des investigativen Journalismus in den USA. Eine neue Generation von schreibenden Frauen berichtete fortan als sogenannte stunt girl reporter aus Fabriken, Armenunterkünften und Krankenhäusern und steigerte nicht nur die Auflagen der Zeitungen, sondern thematisierte auch das Elend des städtischen Proletariats um die Jahrhundertwende.

Nellie Bly machte in der Folgezeit noch öfter mit ihren Arbeiten Schlagzeilen. Auf den Spuren von Jule Vernes’ Romanhelden Phileas Fogg umrundete sie die Welt in 72 Tagen, sie versuchte sich als Elefantenzähmerin, berichtete aus Mexiko und von der Front des Ersten Weltkriegs in Österreich. Als Industriellengattin und -erbin setzte die in Armut Aufgewachsene sich für die Belange von Arbeitern und die Vermittlung von Waisenkindern ein, bevor sie 1922 verarmt starb.

Und auch ihre ehemaligen Leidensgenossinnen konnten von Nellie Blys Abenteuer in der Psychiatrie profitieren: Bald nach ihrer Entlassung wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, auf deren Anraten das Budget für die städtischen Wohlfahrtseinrichtungen um eine Million Dollar erhöht wurde.

Nellie Bly: „Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie“. Aus dem Englischen von Martin Wagner. Aviva Verlag, Berlin 2011, 190 Seiten, 18,50 Euro