Serienhelden

Keine Gnade im Kampf um Anerkennung: Johanna Sinisalo seziert die Beziehungen in einem Team von Drehbuchautoren

Wenn in der „Lindenstraße“ eine Wohnung frei wird, kommt es vor, dass Fernsehzuschauer anrufen und sich nach der Höhe der Miete erkundigen. Daily Soaps leben von dieser Art „Doppeldenk“, von der Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Realität und Fiktion.

Johanna Sinisalo stellt in ihrem neuen Roman das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion ähnlich auf den Kopf. Ihre Hauptfigur Taru findet nach dem Studium den ersten festen Job als Drehbuchautorin einer beliebten Daily Soap namens „Dein Viertel“. In dem fünfköpfigen Team, das von der kühlen Perfektionistin Paula mit straffen Zügeln geleitet wird, wirkt die schüchterne Sozialwissenschaftlerin zunächst fehl am Platz. Doch dann landet Taru mit der Erfindung einer neuen Serienfigur, die deutlich ihre eigenen Züge trägt, einen echten Coup. Wie berauscht durch die Anerkennung der Kollegen verleiht sie ihrem Geschöpf, der leicht verhuschten Bibliothekarin Satu, immer schärfere Konturen, imaginiert einen biografischen Hintergrund und sogar ein Trauma, ohne das kein Serienheld auskommt. Während sie Satu munter alle möglichen Pleiten und Pannen andichtet, beginnt das fiktive Geschehen unmerklich auf ihr eigenes Leben überzugreifen. Ob Pickel, Liebesleid oder familiäre Konflikte: Alles, was ihrem Alter Ego Satu auf dem Bildschirm passiert, widerfährt Taru mit leichter zeitlicher Verzögerung im wirklichen Leben.

Wie schon in ihrem Debütroman „Troll“, der in ihrer finnischen Heimat ein Bestseller war, schildert Sinisalo auch in ihrem neuen Buch den Einbruch des Unheimlichen in den Alltag. Der Fernseher mutiert zum allwissenden „Big Brother“, der keinem totalitären Staat dient, sondern allein seine unersättliche Gier nach Geschichten befriedigt: „Nicht nur ihr seht den Fernseher, sondern der Fernseher sieht auch euch. Er ist ein riesiges Auge, ein Glasauge in der Ecke des Wohnzimmers. Und von dort aus, in diesem von Menschen bewohnten Raum, schaut er sich um und saugt alles, was geschieht, in sich hinein, holt es sich direkt von euch.“ Als die junge Drehbuchautorin Taru dieses Prinzip durchschaut hat, dreht sie einfach den Spieß um und setzt ihre fiktive Figur bewusst als Waffe ein. Sie projiziert ihre eigenen Bedürfnisse auf die von ihr erfundene Heldin, lenkt den Handlungsverlauf in die gewünschte Richtung und bringt am Ende sogar die verhasste Teamleiterin zu Fall.

Auf skurrile Weise verbindet „Glasauge“ verschiedene Genres wie Science-Fiction und Doku-Soap, Büroroman und Psychothriller. Der Roman, der in drei Akte untergliedert ist und von ferne an ein Drehbuch erinnert, bedient sich formal bei den Soaps und Reality-Shows, die er zugleich als perverse Auswüchse der Mediengesellschaft mit beißender Kritik überzieht. In einer Zeit, da keiner mehr weiß, wer im selben Treppenaufgang wohnt, bieten die fiktiven Dorfgemeinschaften den Zuschauern neuen Gesprächsstoff und Identifikationspotenzial: „Wir sind das Holzbein, sind die Prothese für das, was dem heutigen Leben fehlt.“ Die überbordende biblisch-religiöse Symbolik verweist zudem etwas penetrant auf Parallelen der Daily Soaps zum Christentum und deren Funktion als Religionsersatz: Wie mächtige, gottähnliche Wesen erschaffen die Medienmacher eine schöne neue Welt, in der am Ende das Böse gerächt wird und das Gute siegt. Trotz des medientheoretischen Ballasts gelingt es der Autorin über weite Strecken, eine fesselnde Geschichte zu erzählen, und das liegt vor allem an ihrem detailgenauen Erzählstil. Messerscharf seziert Sinisalo die Beziehungen zwischen den Drehbuchautoren, die nach außen eine freundschaftliche Gemeinschaft bilden, im täglichen Kampf um Kreativität und Anerkennung aber keine Gnade kennen. Nicht nur im Fernsehen, auch im Büro herrscht eine Art von „Doppeldenk“ vor: Während Taru auf der fiktiven Ebene die Ermordung der intriganten Teamleiterin plant, apportiert sie ihr in Wirklichkeit brav ihre Vorschläge, „wie ein eifriger Welpe, der auf Streicheleinheiten wartet“. Je weiter der Roman fortschreitet, desto mehr gleichen sich Soap und „Realität“ an. Die überraschende Schlusswendung, die in ihrer Absurdität an die wundersame Wiedergeburt Bobby Ewings erinnert, liefert den Beweis dafür, dass die Realität noch klischeehafter ist als jede Fiktion. MARION LÜHE

Johanna Sinisalo: „Glasauge“. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Tropen Verlag, 352 Seiten, 19,80 Euro