Literatur für Jugendliche

JUGENDBÜCHER Lange schmeckte Kinderliteratur wie das Füttern späterer Zielgruppen. Jetzt wird sie literarisch

VON SARAH WILDEISEN

Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ war im Frühjahr für den Leipziger Buchpreis nominiert, dann aber leer ausgegangen. Den Clemens-Brentano-Preis, den die Stadt Heidelberg jährlich vergibt, bekam Herrndorf. Obwohl vom Verlag nicht als Jugendbuch deklariert, hatte die diesjährige Jury des Deutschen Jugendliteraturpreises „Tschick“ auf ihre Nominierungsliste gesetzt – und gleich einen Rüffel der Jugendbuchvereinsmeier kassiert. Dort gilt es als Unart, Bücher auf die Nominierungsliste des Jugendliteraturpreises zu setzen, die nicht in Kinder- und Jugendliteratur-Verlagen erschienen sind.

Eliminierte Eltern

Herrndorf hat beim Schreiben von „Tschick“ explizit an die Erfolgselemente seiner Lieblingskinderbücher angedockt. Beim Wiederlesen der Bücher seiner Kindheit waren ihm drei Dinge aufgefallen: Gleich am Anfang werden die Eltern aus der Handlung eliminiert, man geht auf eine Reise – und außerdem spielt Wasser eine Rolle. Tom Saywer und Huckleberry Finn also. Übertragen ins 21. Jahrhundert sieht das in etwa so aus: Der wohlstandsverwahrloste Ich-Erzähler Maik ist allein zu Hause, der Vater auf Geschäftsreise – sprich: mit der Geliebten verreist, und die Mutter auf der Beautyfarm – sprich: auf Entziehungskur.

Dann taucht der assige Russlanddeutsche Tschick aus seiner Klasse auf, und statt mit einem Floss auf dem Mississippi machen sich die beiden 14-Jährigen mit einem geklauten Lada auf den Weg in die Walachai. Was sie, ständig darauf bedacht nicht als Kinder erkannt zu werden, bei ihrer großen Fahrt erleben, ist nicht nur komisch und abenteuerlich. Es fährt dem Leser direkt ins Herz. Denn Herrndorf gelingt es, den Osten der Republik zum Roadmovie-Szenario zu gestalten, das von Menschen bewohnt wird, die verrückter, aber auch menschlicher kaum sein könnten. Das Wasser kommt etwas zu kurz, bildet aber am Ende den Hintergrund für ein exzentrisches Schlussbild: Maik und seine alkoholisierte Mutter tauchen im Pool, während über ihnen das entrümpelte Interieur des Einfamilienhauses dümpelt. Zwei Polizisten glotzen ratlos durch die verzerrende Wasseroberfläche.

Ob Kinder- und Jugend- oder Allgemeinliteratur mag dem Leser vielleicht egal sein, legt den Finger jedoch in die immer schwärende Wunde der Kinder- und Jugendbuchszene. Werden Bücher für Noch-nicht-Erwachsene doch oft als nicht vollwertige Literatur angesehen. Eher betrachtet man Kinderbücher als eine Art Material zum Anfüttern für den Leser von morgen, zweckgebunden weil für eine bestimmte Zielgruppe verfasst.

Beobachtet man die Entwicklungen und Themenvorlieben der Kinder- und Jugendliteratur jedoch, so wird deutlich, dass sie wie ein Seismograf gesellschaftliche Veränderungen anzeigen. Denn wo, wenn nicht hier, outet sich eine Gesellschaft deutlicher, welche Werte sie den Nachwachsenden vermitteln will? So gesehen lohnt ein analytischer Blick auf die diesjährigen Preisträgerbücher.

Die Alten von morgen

Nach dem Thema Tod scheint die Beziehung zwischen Enkel- und Großelterngeneration ein neues Lieblingsthema. Im Sieger-Bilderbuch „Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“, das Martin Baltscheit geschrieben, gestaltet und illustriert hat, ist das Thema Älterwerden in die Tierwelt verlegt. Der Fuchs, der ein langes und abenteuerliches Leben führte und den jungen Füchsen viele Tricks verriet, wird schusselig. Erst verwechselt er die Wochentage und sitzt mittwochs in der Kirche, dann vergisst er, was er gedacht hat, schließlich das Jagen und sich selbst. Während der Spott der Gänse, Geißlein und Hühner groß ist, lauscht der Alte den jungen Füchsen, die vom Jagen und ihren vielen Tricks erzählen.

Allein ist der Alte nicht, wie das letzte textfreie Bild zeigt: Um den schlafenden roten Alten fläzen sich blaue Jungfüchse und haben mindestens ein Auge auf ihn. So sollte Altenpflege aussehen, scheinen uns die schlauen Füchse zuzuzwinkern. Obwohl: Ist es nicht das schlechte Gewissen der Elterngeneration, das hier durchleuchtet?

Ein Buch für Gameboys

Auch im Kinderbuch „Anton taucht ab“ spielen Großeltern eine Rolle, agieren jedoch eher im Hintergrund. Der neunjährige Anton verbringt mit seinen Großeltern einen Campingurlaub am See. Starflashman, wie sich der computerspielgestählte und Actionfilmliebhaber Anton nennt, findet den See jedoch abscheulich. Nicht wasserblau wie im Pool, sondern schwarz, glitschig und voller Fische ist die „Horrorbrühe“. Doch weil Oma und Opa ihn nur fernsehen lassen, wenn er badet und sich Freunde sucht, muss Anton sich etwas einfallen lassen. Dass der um keinen kessen Spruch verlegene Junge sich nur im Virtuellen wie Computerspielen und Chatrooms wirklich cool fühlt, erfährt der Leser, wenn Anton mit Piranha redet. Den kleinen Köderfisch hat er seinem Großvater abgeschwatzt und fährt ihn nun in einem Gurkenglas auf seinem ferngesteuerten Geländewagen über den Zeltplatz.

Der clevere Kniff des Buches: Anton entspricht genau der Zielgruppe, um die die kinderliterarische Welt sich Sorgen macht. Er ist ein männlicher Nichtleser, der sich in virtuellen Räumen der Computerspiele zu Hause fühlt, eine ideale Identifikationsfigur für die Lesemuffeljungs. Dass die Natur – hier der See – das Original zu animierten Abenteuerwelten liefern könnte, dämmert dem Jungen erst ganz am Ende. Denn wie in „Tschick“ endet auch das preisgekrönte Kinderbuch unter Wasser.

Patchwork

Im Gewinner-Sachbuch, „Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten“, kann sich jedes Kind wiederfinden. Denn hier wird kaum eine der heute existierenden Familienformen ausgelassen: die alleinerziehenden Mütter- und Väterfamilien, die Patchworkfamilie, die Regenbogen- und die Pflegefamilie. Dabei sind es vor allem die pointiert komischen Cartoons von Anke Kuhl, die dieses Sachbilderbuch so außergewöhnlich und unterhaltsam machen.

■ Die Preisträger des Deutschen Jugendliteraturpreises 2011

Bilderbuch: Martin Baltscheit (Text, Illustration): „Die Geschichte vom Fuchs, der den Verstand verlor“. Bloomsbury Kinderbücher & Jugendbücher 2010, 13,90 €. Ab 5

Kinderbuch: Milena Baisch (Text), Elke Kusche (Illustration):„Anton taucht ab“. Beltz & Gelberg 2010, 9,95 €. Ab 8

Jugendbuch: Wolfgang Herrndorf (Text): „Tschick“. Rowohlt Berlin Verlag 2010, 16,95 €. Ab 13

Sachbuch: Alexandra Maxeiner (Text), Anke Kuhl (Illustration): „Alles Familie! Vom Kind der neuen Freundin vom Bruder von Papas früherer Frau und anderen Verwandten“. Klett Kinderbuch Verlag 2010, 13,90 €. Ab 4

Preis der Jugendjury: Ursula Poznanski (Text): „Erebos“. Loewe Verlag 2010, 9,95 €. Ab 13

Sonderpreisträger: Übersetzer Tobias Scheffel