Kampfplatz der Kulturen

KAMMERSPIELE MÜNCHEN Der Mann, der vorgibt im Namen vieler zu handeln: In „Atropa. Die Rache des Friedens. Der Fall Trojas“ geht es um die aktuelle Rhetorik des Krieges

Mit blutgetränktem Hemd bietet Agamemnon den leiderstarrten Unterworfenen jovial Kaffee und Kuchen an und blutbesudelt küsst Kassandra ihre Peiniger

VON PETRA HALLMAYER

„Hier geht es nicht um mich“, beteuert Agamemnon. Hier geht es um das große Wir, die „Zukunft der Kultur“, die Verteidigung der westlichen Werte wider die Barbaren. Es sind vertraute Worte, mit denen der Oberbefehlshaber der Griechen für seine mörderischen Pläne wirbt. „Die Operation ist abgeschlossen“, wird er nach der Zerstörung Trojas im Namen der Freiheit und Zivilisation verkünden. Mission accomplished.

In „Atropa. Die Rache des Friedens. Der Fall Trojas“ nutzt Tom Lanoye Tragödien von Euripides und Aischylos für eine Abrechnung mit zeitgenössischer Kriegsrhetorik und Zwangsbefreiungsideologien. Noch vor dem Gemetzel führt uns der Regisseur Stephan Kimmig in den Kammerspielen München in die Keimzelle der Gesellschaft. Dort gelingt ihm eine der stärksten Szenen des Abends. Zum Entsetzen seiner Frau will Agamemnon das Leben seiner Tochter „im Tausch für Schlachtenglück“ opfern. Wie Iphigenie (Katja Bürkle) im Abseits kauert, während die Eltern verbissen zanken, ein verlassenes, verstummtes Kind, wie der sich mit Bedauern in Pflicht und Notwendigkeiten schickende Papa an ihre Einsicht appelliert, sie sich schließlich erhebt, um freiwillig in den Tod zu gehen, das ist von beklemmender Eindringlichkeit.

Für den Kampf der Kulturen verwandelt sich das Mädchen, das eben noch strahlend von der Liebe träumte und wie eine Cheerleaderin Signalfahnen schwenkte, in eine fanatisierte Märtyrerin. Allein die hohen Erwartungen, die die Auftaktszenen weckten, löst die Inszenierung nicht gänzlich ein, und an Kimmigs unvergessene „Mamma Medea“ (ebenfalls von Tom Lanoye) reicht sie nicht heran. Das liegt vor allem an der Stückvorlage.

Der flämische Autor Tom Lanoye versteht es wie wenige, antike Tragödien in die Gegenwart zu holen, doch die überdeutliche Aktualisierung des Stoffes wird diesmal zur Schwäche des Textes. Die Zitate von George W. Bush und Donald Rumsfeld, deren Propagandalügen längst zu kabarettistischen Standardscherzen wurden, machen es uns allzu leicht, uns von Agamemnon bequem zu distanzieren. Seinen Reden wohnt weder verstörende Verführungskraft inne, noch fordern sie zu analytischer Reflexion heraus. So erspart uns „Atropa“ die ernsthafte Auseinandersetzung mit den modernen Legitimationsmustern von Gewalt als Instrument zur Verhinderung von Gewalt, und mit unseren eigenen Ambivalenzen.

Kimmig, der – wie er in Interviews verriet – mit einigen Vordergründigkeiten des Textes haderte, hat ihn drastisch gekürzt. Er bricht Lanoyes Frontenbildung, der Agamemnon sechs Frauen als Opfer und Anklägerinnen gegenüberstellt, auf, indem er das Klagelied über die Zerstörung Trojas einer männlichen Stimme (Walter Hess) überträgt. Für die emotionale Kraft der Aufführung sorgen die fabelhaften Hauptdarsteller: Steven Scharf, dessen Agamemnon kein eiskalter Politstratege ist, sondern ein Mann mit widerstreitenden Gefühlen, der um Verständnis buhlt und machttrunken seinen Willen mit ungeheurer Brutalität durchsetzt, Wiebke Puls, die mit völlig pathosfreier Intensität maßlosen Schmerz und Zorn ausdrückt, und Katja Bürkle in einer Doppelrolle.

Der Rest des Ensembles muss allerdings gar zu oft lange Passagen statisch ins Mikro sprechen – ein Verweis auf den Medienbetrieb, der sich rasch erschöpft. Doch dann, wenn Kimmig den Akteuren in den Wortschlachten erlaubt, wirklich zu spielen, entwickelt die Inszenierung einen packenden Sog. Statt die Kriegsgräuel zu illustrieren, lässt er die Protagonisten in knallrotem Theaterblut baden. Mit blutgetränktem Hemd bietet Agamemnon den leiderstarrten Unterworfenen jovial Kaffee und Kuchen an, blutbesudelt küsst Bürkles Kassandra ihren Peiniger, eine hassgestählte, todesbereite Rachefurie und Wiedergängerin Iphigenies.

Es ist ein vergifteter Sieg, den die Griechen erringen, und der Frieden, der darauf folgt, bringt keine Versöhnung. Die „befreiten“ Frauen wollen lieber sterben, als Siegerbeute zu sein, und wählen Klytämnestra zur Vollstreckerin ihres delegierten Suizids. Die führt sie in einen parkgaragentristen Orkusschacht, ehe sie Agamemnon verlässt. Der Mann, der vorgab im Namen so vieler zu handeln, bleibt am Ende einsam zurück.