Wie öd ist Oed?

91249 OED Kein Kino, keine Bank, fast kein Handyempfang. Trotzdem leben die Leute gerne hier. Warum nur?

„Hier steht die Zeit still“, sagt Franz Müller. Ihm genügt das

AUS OED LISA SCHNELL

ööö…“ Spitzen Sie Ihre Lippen, holen Sie tief Luft und lassen Sie ihn erklingen: den Ö-Laut. Wie hört sich das an? Blööd? Wie jemand, der nicht weiß, was er sagen soll? Wie ein verunglückter Jodler? Für Franz Müller ist es der Sound seiner Heimat.

Er wohnt in Oed bei Nürnberg, gesprochen: „Öd.“ Der Ortsname stammt aus der Zeit, als es noch kein Ö gab, sondern nur ein Oe. Später wanderte das e auf den Kopf des O, noch später wurden aus ihm die zwei Punkte. „Öööö“, das klingt für Müller nach Ruhe und Weite. „Oed“ kommt von „Einöde“. Müller wohnt im blinden Fleck der Zivilisation, im Niemandsland. Und er liebt es.

Oed ist hingetupft in ein Tal zwischen zwei steilen Hängen, nicht mehr als eine kurvige einspurige Straße mit geflickten Schlaglöchern. Am Ortseingang steht eine verfallene Fabrik. Von dem rechteckigen, weißen Klotz blättert die Farbe, das Firmenlogo ist verblasst. Dann leer stehende Häuser. Staubige Fensterscheiben, verrostete Briefkästen, Risse in den Wänden. Ein alter Mann mit Filzhut schiebt eine Schubkarre voll Brennholz zu seinem Haus, ein anderer in einer grauen Trainingsjacke wühlt in seinem Vorgarten. In den Fenstern der meist kargen Einfamilienhäuser hängen Spitzengardinen und Osterschmuck. Zwischen Straße und Hang gurgelt ein kleiner Bach, Hühner picken im Gras.

Keine hundert Menschen leben in Oed. Es gibt einen Metzger, eine Bäckerei, ein Gasthaus, eine alte Mühle und einen Briefkasten. Kein Kino, keine Bank, keine Bushaltestelle, keinen Supermarkt. Und nur eine Stelle, an der auf dem Display des Handys wenigstens ein Empfangsbalken erscheint: etwa 14 Schritte einen kleinen Fußweg den Berg hinauf vor einer großen Efeuhecke.

Franz Müller stört das nicht. Der Rentner mit dem grauen Backenbart trägt Funktionsjacke und Jeans. Vor über 50 Jahren verliebte er sich und zog zu seiner Frau in das abgelegene Tal. Seitdem will er nicht mehr weg. Wird es ihm denn niemals öd in Oed? Müller winkt ab und öffnet die Tür zum Gasthof.

Es ist Mittagszeit. Tagesausflügler sitzen um robuste Holztische mit Schweinsbraten und Knödeln. An den Wänden Blechteller mit den Wappen der Gemeinden. Oed hat keines, es ist zu klein. Müller wird von der Bedienung mit Vornamen begrüßt. „Spätestens nach einem Jahr kennt man alle hier“, sagt er und bestellt Hackbraten.

Ein paar Tische hinter ihm spielt ein fülliger Mann auf einem schwarz-weißen Akkordeon. „Fideri, fidera, fiderallala“, singen die Männer um seinen Tisch dazu. Die Bedienung trägt ein kleines Tablett mit sechs Kristallgläsern, gefüllt mit Schnaps, zu ihnen. „Hier ist immer was los“, sagt Müller. Noch wilder gehe es zu Kirchweih zu.

Auf das traditionelle Fest im Juli fiebern alle hin im Dorf. Vier Tage wird gesungen, getrunken und gefeiert. Burschen in Lederhosen stellen auf der Wiese gegenüber dem Gasthof eine Fichte auf, geschmückt mit Schnitzereien und Tüchern. Am Abend wirbeln sie mit Mädels im Dirndl um den geschmückten Baum.

Vier Tage im Jahr, und dann ist wieder Ruhe. Dann gehen die Lichter in Oed wieder um neun Uhr aus. Was sonst so passiert hier? Müller kneift die Augen zusammen. „Ich wüsst nichts“, sagt er. Keine Veränderung in über 50 Jahren? „Hier steht die Zeit still“, sagt Müller. Ihm genügt das. Er erzählt von den Wanderwegen, die direkt von seinem Haus in die Wälder führen. Von der Stille, die einen nach nur ein paar Schritten umgibt, dem Entenschnattern, das ihn jeden morgen weckt. „Ich wohne da, wo andere in den Urlaub fahren“, sagt er.

Es sind Städter, die ans Ende der Welt pilgern, um Ruhe zu finden vor dem Weltgetöse. Haben sie sich ihre Dosis Einöde verabreicht, ziehen sie wieder zurück in ihre Vielfalt an Bars, Kinos und Restaurants. Sie würden wohl Schlange stehen vor der einen Efeuhecke, wenn sie in Oed leben müssten, gierig, sich wenigstens über ihr Telefon mit der Welt zu verbinden.

Ist es nicht beklemmend, wenn jeder jeden kennt? Wird es nicht langweilig, wenn die Welt nur aus einer Straße besteht? Ob in der kleinen Bäckerei mit den selbst geschriebenen Preisschildern oder der Metzgerei, wo die Würste „Bauernseufzer“ heißen, immer verständnislose Blicke und der Satz: „Ich bin da daheim.“ Was sind das für Menschen, die Oedianer? Vielleicht muss man jemand fragen, der selbst einmal ein skeptischer Städter war. So wie Gabrielle Bräutigam.

Mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen wohnt sie in der alten Oedmühle, die sie vor zwölf Jahren renovierten. Ein orange Steinhaus mit kleinen Fenstern bei dem das spitz zulaufende Dach fast bis zum Boden geht. Im Inneren knarzen die dunkelroten Dielen unter jedem Schritt. Auf einem Stuhl steht ein geflochtener Korb mit Äpfeln aus dem Garten. Eine steile Treppe führt in den ersten Stock, in Bräutigams Büro. Sie hat noch ihre Lesebrille in den kurzen, verwuschelten Haaren. Um den Hals trägt sie eine Kette aus roten Hagebutten. Früher arbeitete sie im Marketing, lebte in Nürnberg. Jetzt gibt sie Wildkräuterseminare in den Wäldern um Oed. Was ist passiert?

Vieles war neu für sie. Dass die Leute traurig sind, wenn man nicht zum Geburtstag oder einer Beerdigung vorbeikommt. Dass die Lederhosenburschen an Kirchweih Autofahrer mit einer Gurke bedrohen, damit sie ihnen Geld für das nächste Bier geben. Und, ja, es stimme. „Oed ist genauso öd, wie es klingt“, sagt sie. Und genau das sei das Geheimnis. „Hier bist du raus aus dem Gewurstel und Gewusel“, sagt sie. Die Menschen aus Oed seien wie die Bäume um sie herum: ruhig, unaufgeregt, knorrig. Jeder mache, was er will, ob man einen Designermantel anhabe oder nicht, interessiere niemanden. In der Stadt müssten sich die Menschen ständig mit anderen vergleichen, auf Facebook wie im realen Leben. „In Oed bleibt alles immer, wie es ist. Vergleichen macht da keinen Sinn“, sagt Bräutigam. „Hier habe ich den Freiraum, mir meine eigenen Gedanken zu machen.“ Auch sie will nicht mehr weg. Trotzdem: Ab und zu, wenn sie in Nürnberg ist, genießt sie es, mal zum Thai gehen zu können.