In Sachen Marzipan

Scheibe-Wischer (I): Wie Günter Grass seine Literatur gegen die Süßwarenspezialität verteidigen wollte

Alle Jahre wieder: Zum Jahreswechsel gewährt taz-Justiziar und Rechtsanwalt Peter Scheibe Einblicke in die Abgründe des Presserechts.

Mit gewohnt ausholender Geste warf Wiglaf Droste in der taz Günter Grass und dessen Verleger vor, sie hätten ein für Herbst 2006 geplantes Buch aufgeschoben, weil die Druckmaschinen für Günter Grass’ SS-Bekenntnis „Beim Häuten der Zwiebel“ rotieren sollten. Getroffen hatte es den Band des Malers und Zeichners Bernd Pfarr, Erfinder des verschrobenen „Sondermann“.

Ob der sozialdemokratische Stallgeruch dazu verleitete, ist unklar, jedenfalls beauftragte Günter Grass den Anwalt von Gerhard „Ich färbe nicht“ Schröder und forderte die taz auf, insgesamt vier Passagen nicht mehr zu verbreiten. Zugrunde lag diesem Konflikt der Klassiker unter den presserechtlichen Streitigkeiten, nämlich die Frage, ob eine Formulierung eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil darstellt. Nur Erstere sind, wenn falsch, unzulässig, während Letztere den Grundrechtsschutz der Meinungs- und Pressefreiheit genießen.

Da die taz diese Ansprüche nicht erkennen konnte und die geforderte Unterlassungserklärung nicht abgab, beantragte Grass’ Anwalt eine einstweilige Verfügung beim Landgericht Hamburg und bekam zunächst in drei von vier Punkten Recht. Dass Wiglaf Droste den Nobelpreisträger als „SSPD-Kreatur“ bezeichnet hatte, mochte allerdings auch das Gericht nicht beanstanden. Günter Grass, so das Gericht, „ist seit Jahrzehnten als moralische Instanz in Deutschland angesehen und nimmt dies auch durchaus für sich öffentlich in Anspruch“. Ebenso habe er sich „lange Zeit – etwa in Wahlkämpfen – für die SPD engagiert. Durch die Veröffentlichung seines autobiografischen Werkes, in dem er erstmals öffentlich eingeräumt hat, in seiner Jugendzeit Mitglied der SS gewesen zu sein, hat er weitreichende Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgelöst.“ Wenn die taz nun „auf diesen Sachverhalt – pointiert und polemisch – in der angegriffenen Weise eingeht, dass sie die Kürzel ‚SPD‘ und ‚SS‘ zusammenzieht, so ist dies nicht zu beanstanden.“ Auch der Begriff „Kreatur“ überschreite nicht das Maß der kritischen Auseinandersetzung. Und dass der Begriff missbilligend sei, führe nicht zur Unzulässigkeit.

In den anderen Punkten ging es ins Hauptsacheverfahren. Zwar vermochte auch hier die taz das Gericht letztlich nicht vom Zusammenhang zu überzeugen, dass das Erscheinen der Jugenderinnerungen von Günter Grass die Veröffentlichung des Pfarr-Buches verzögert habe. Aber die taz gewann aber in einem weiteren Punkt. Im Artikel hatte Droste gedichtet: „In Deutschland ist alles aus Marzipan / Vor allem die Literatur. / Das hat ihr der Günter Grass angetan“ – was dessen Anwalt ebenfalls unterlassen sehen wollte. Doch hier bemerkte das Gericht, es werde „zwar auf den Kläger angespielt […], da dieser in der Öffentlichkeit häufig mit der Stadt Lübeck, in der sich ein Günter-Grass-Haus befindet, in Verbindung gebracht wird und diese u. a. für das von Lübecker Firmen hergestellte Marzipan bekannt ist. Die Äußerung […] stellt jedoch eine Bewertung des Verhaltens des Klägers dar.“