Vorsicht vor dem Oberhalluzinator

Poststelle (1): Was passiert, wenn zwei Schriftsteller einen Briefwechsel beginnen? Henning Ahrens fragt sich, was dem Schreiben förderlich ist. Eine Katze auf dem Schoß oder mutmaßliche Fans in Russland? „Vögel“, antwortet Jochen Missfeldt. Und ruft ihm ein stilles militärisches „Achtung“ entgegen

HENNING AHRENS, Jahrgang 1964, lebt in Handorf, Niedersachsnflen. Sein letzter Roman „Tiertage“ erschien 2007.

DAS PRINZIP POSTSTELLE: „Hätten Sie Lust, für die taz in einen Briefwechsel zu treten?“, haben wir die Autoren Jochen Missfeldt und Henning Ahrens gefragt. „Als Kollegen, sozusagen, und sich austauschen über die Bedingungen, Schwierigkeiten und Freuden des Lebens als Schriftsteller?“ Sie hatten. Was sie verbindet: Jochen Missfeldt und Henning Ahrens haben sich beide sowohl in der Lyrik als auch in der Prosa umgetan, beide leben im Norden – und dort auf dem Land. Was sie trennt: Eine Generation. Wie nah ihre Vorstellungen und Erfahrungen vom Leben als Schreibende im Übrigen sind, erfahren Sie in dem Briefwechsel der beiden, der in loser Folge an dieser Stelle erscheinen wird. TAZ

Lieber Jochen Missfeldt,

sind Sie der Ansicht, dass es dem Schreiben förderlich ist, wenn dabei eine Katze hinter dem Computerbildschirm liegt? Oder vor der Tastatur? Oder auf dem Schoß? Und was, apropos Katzen, ist mit den Menschen? Müssen wir uns jedes Mal neu verlieben – und sei es in den gleichen Menschen –, um einen neuen Roman beginnen zu können?

Immerhin braucht man für diese recht einsame Arbeit einen emotionalen Antrieb oder eine Leidenschaft, sozusagen einen glühenden Kern, der auf der Oberfläche für produktive Beben sorgt. Wie sollte man sich in diesem Literaturbetrieb, der einerseits unberechenbar und andererseits auf eine bis zum Gähnen langweilige Art berechenbar ist, sonst behaupten? (Zumal wir leider nicht in der Ukraine leben, wo das Lesen, wie Serhij Zhadan neulich im Radio zu berichten wusste, unter jungen Leuten absolut angesagt ist.)

Die russischen Fans

Der Sicherheiten gibt es wenige. Ich weiß nur, dass ich gern Knappwurst esse. Dazu kommt, dass ich in Russland Tausende von Fans habe. Jedenfalls, wenn ich einem Herrn Dr. Batalow aus Kirow glaube, der mir gelegentlich schreibt und um eine Spende von fünfzig Euro bittet, damit er die nächste Konferenz über mein Werk organisieren kann. Er hat schon ungeheuer viele dieser Konferenzen organisiert. Angeblich. Werktätige und Studenten verschlingen meine Bücher. Angeblich. Bibliotheksangestellte und Professoren. Angeblich. In Kirow. Das steht fest.

Nicht, dass sich dies nennenswert auf den Verkauf meines Werkes auswirken würde. Vermutlich kursieren an der Wjatka die drei Exemplare meiner drei Romane, die ich dorthin geschickt habe – speckig, eselsohrig, zerlesen. Ein Star! In Russland! Manchmal argwöhne ich allerdings, dass er nur mit meiner Eitelkeit spielt …Von wegen Konferenzen! Mit den Euro hat er die Hochzeit seiner Tochter finanziert, dieser Russe! Ich bekam sogar ein Hochzeitsphoto, das Katharina Lieber (geb. Batalowa) und Eugen Lieber zeigt. Mit vielen Rüschen. Und darin stecken sie, meine diversen fünfzig Euro. In den Rüschen des Brautkleids? (Autoren! Sollte irgendjemand von euch Post von Herrn Dr. Batalow aus Kirow, Russland, erhalten, dann meldet euch bei mir! Ich will Gewissheit haben!) Sie bekommen nicht zufällig Post von einem Herrn Dr. Batalow aus Kirow, lieber Jochen Missfeldt?

Schwankender Kahn

Dennoch: Ein Trost, sich eine Fangemeinde in Russland herbeihalluzinieren zu können. Das ist so weit weg, dass es ebenso gut wahr sein könnte. Man schnappt ja nach jedem Strohhalm, der einen stützt – obwohl ein Strohhalm keine große Stütze ist, das sei gestanden. Wir leben und schreiben wie auf schwankendem Kahn in der See. Und im Winde klirren die Fahnen. (Gut, dass ich hier einen Kachelofen habe. Auf meinem Schoß liegt die Katze. Das wärmt auch.) Woher kommt er also, der Treibstoff des Fabulierens? Oder muss man sich so oft selbst in den Hintern treten, dass man den Schuster zum Millionär macht? (Nächstes Mal erzähle ich Ihnen vom alltäglichen Wahnsinn der Leser, vorausgesetzt, Ihr Brief lässt das zu.)

In freudiger Erwartung Ihrer Antwort, herzlich, Ihr Henning Ahrens

Lieber Henning Ahrens,

vielen Dank für Ihren Brief aus Peine! Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, nachdem ich Ihnen vor ein paar Wochen die Ansichtskarte – einfach so – aus Breitenbrunn in der bayerischen Oberpfalz schrieb. Antwortet man eigentlich auf eine Ansichtskarte? Ich bin Ansichtskartenschreiber. Ich kann damit Briefschulden begleichen und die Telefon- und Handymailbox entsorgen. Eigentlich entsorge ich mich selbst, denn Ansichtskarten signalisieren immer Sorgenfrei und Sorglos, so etwas wie Sanssouci, Schloss und Park, Bänke und Skulpturen. Da ist immer Sommer, kühle Getränke und coole Gedanken liegen bereit. Das stimmt die Empfänger neugierig und milde. Ansichtskartenschreiber leisten damit einen Beitrag für eine friedliche Welt.

Ansichtskarten sind für mich ein Aperitif (Gin Tonic war mir mal der liebste). Wenn ich den kurz vor der letzten Briefkastenleerung getrunken habe, dann gehe ich in die nächste beste Kneipe, um zu essen und zu trinken. Das tat ich auch in Breitenbrunn, wo ich im Zweithaus eines mir lieben Münchner Freundes einige Tage verbrachte. Das Haus liegt hoch an einem Berghang. Unter mir lag das Breitenbrunner Sägewerk im Scheinwerferlicht, mein Rücken lehnte an den warmen Kacheln eines bullernden Ofens. Lieber Henning Ahrens, Sie können sich denken, wie schwer es mir fiel, da aufzustehen, die Ansichtskarte in den Briefkasten zu werfen ohne das Wissen, dass Sie mir jemals antworten würden. Nun also freue ich mich!

Mit einer dem Schreibprozess förderlichen Katze kann ich nicht dienen. Immerhin: Ich mag Katzen. Als unsere Töchter klein waren, hatten wir zwei graue. Die mussten wir wieder abschaffen, weil Nina, die mittlere von dreien, allergisch gegen Tierhaare reagierte. Ich selber wuchs mit Katzen und Hunden auf. Wir hatten welche, unsere Nachbarn hatten auch welche. Unsere Katzen hatten keine Namen, unsere Hunde hießen Drusus und Etzel, Burschi und Deubi. Meine Oma hatte einen Hund, der hieß Roland, und den hat ihr Sohn, mein Onkel Gustav, mit seiner Dienstpistole im Wald erschossen. Warum das sein musste, weiß ich nicht.

Onkel Gustavs Tod

Onkel Gustav war mein Patenonkel; er fiel im August 1941, acht Monate nach meiner Geburt. Er konnte nicht richtig beerdigt werden, weil er in Russland nach einem Granattreffer in Fetzen auseinanderflog. Meine Oma bekam von seinem Kompaniechef ein schönes Fotoalbum. Der Name meines Patenonkels steht auf einem Grabstein, schön in goldener Schrift; der Grabstein steht auf dem Friedhof von Oeversee bei Flensburg. Auch die Namen meiner Oma und meines Vaters, meiner Tante und meiner Mutter und meiner jüngsten Schwester sind darauf.

Der Friedhof von Oeversee gehört zu den schönsten, die ich kenne, und auch die kleine alte Kirche mit dem runden, aus Feldsteinen gemauerten Turm ist ein schönes Stück. Immer, wenn es praktisch ist, wähle ich den Weg über den Friedhof, immer dicht an der Kirche vorbei, an unserem Grab lege ich eine Gedenkminute ein, das Grablicht brennt, Blumen blühen, Immergrün hält sich tapfer. Für das Leben auf diesem Gedenkstreifen des Todes sorgen meine Schwestern. Sollten Sie mich einmal besuchen, dann zeige ich Ihnen den Friedhof, das Grab und die Kirche, und eine kleine Friedhofs-Überraschung halte ich jetzt schon mal in petto.

Kein Vormund sein

Eine Katze befördert meine Arbeit also nicht. Auch ein Hund, läge er mir brav zu Füßen oder im Schoß, könnte meinen Roman nicht schneller voranbringen. Auch Goldfische und andere Fische nicht, Mäuse und Ratten nicht, auch kein Papagei im Haus. Ich liebe Tiere, besonders Vögel, ich kann mich an diesen Viechern nicht satt sehen, ich habe ständig mein Vogelbuch in Bereitschaft, ich freue mich über jede Neuentdeckung. Ich möchte diese Spezies allerdings auf Distanz, sie soll mir nicht allzu nahe auf den Pelz rücken, ich möchte sie in Ruhe beobachten, ich will sie auch gern in freier Natur füttern und pflegen, ich will nur nicht Hund oder Katze und was sonst noch kriecht und fliecht zu meinen Füßen haben, ich will nicht gesetzlicher Vormund, also Tierhalter sein und meine Arbeitszeit mit Tierpflege verbrauchen. Wer mir sagt: Du magst ja keine Tiere, der ist jedoch auf dem falschen Dampfer.

Sie scheinen da anders programmiert zu sein. Sie nutzen die Katze als Katalysator? Oder war das nicht so gemeint? Was wirkt denn an der Katze so antreibend? Das Schnurren? Die Ruhe? Das Fell? Katze im Schoß macht tatenlos. So spricht der Volksmund, und den kennen Sie doch nur allzu gut. Den Volksmund haben Sie mit der Muttermilch eingesogen! Das entnehme ich Ihren Büchern. Ein besseres Kompliment kann ich Büchern, denen ich ein stilles militärisches „Achtung“ entgegen rufe, nicht erweisen!

JOCHEN MISSFELDT, Jahrgang 1941, lebt in Oeversee bei Flensburg. Sein jüngster Roman „Steilküste“ erschien 2005.

Der Oberhalluzinator

Jetzt aber zu Russland! Ihre diesbezüglichen literarisch-diplomatischen Beziehungen bedürfen intensiver Pflege und Wartung. Beobachten und hören Sie genau! Was Sie mir dazu schreiben, scheint zu wachsen auf dem Mist des Reichsfürsten Potemkin, Oberhalluzinator des russischen Reiches. Ob Sie da reingefallen sind? Sind Ihre Bücher ins Russische übersetzt worden? Schwindelt man Ihnen Deutsch-Kenntnisse vor?

Ich kannte mal einen mir sympathischen Typen aus Frankfurt am Main. Der behauptete, es gebe bei ihm einen Fanclub mit meinem Vor- und Nachnamen. Wörtlich schrieb er mir: „Frauen und Männer treffen sich einmal die Woche, wir lesen uns an diesen Club-Abenden bei Bier und Brot Ihre Fliegergeschichten vor.“ Man wolle einmal im Monat Sitzungsprotokolle schicken, man wolle mich besuchen und das Projekt einer Club-Zeitschrift vorschlagen. – Alles für die Katz! Der Glaube daran ist längst hin. Die Gewissheit aber, dass daraus etwas Schönes (bloß keine Besuche!) hätte werden können, steht immer noch bombenfest.

Die Liebe zur Rüsche

Auch bei mir sind es die Rüschen! Die Rüschen in den Kleidern der Frankfurter Fanclub-Frauen, die mir so unvergesslich und lieb und teuer sind. Auch die Rüschen in den Kleidern Ihrer russischen Frauen sind mir durch Ihren Brief lieb und teuer geworden; sie haben mich sofort zu einer Reise in die Ukraine (nicht Russland!) inspiriert: Kiew (nicht Kirow!) mit Abstecher auf die Krim-Halbinsel, wo der russische Reichsfürst seine Potemkinschen Dörfer gebaut haben soll. Die Rüschen, die Liebe zu den Rüschen, das ist der Fabulier-Treibstoff, von dem Sie sprechen! Das ist auch mein Treibstoff! Darüber demnächst mehr. Was ist eigentlich eine Knappwurst? Ich kenne die nur als Hunde- und Katzenfutter!

Herzlich aus dem Norden grüßt Ihr Jochen Missfeldt