Musterländle Massachusetts?

Was Dukakis als Präsident mit den USA vor hat, läßt sich teilweise an seiner Gouverneurspolitik im Bundesstaat Massachusetts ablesen / Der Staat soll aktiver werden, ohne die Steuern zu erhöhen / Konfliktregelung durch Korporatismus? / High-Tech-Firmen unterstützen Dukakis‘ Kandidatur  ■  Von Christoph Scherrer

Was „Cleverle“ Lothar Späth in Baden-Württemberg noch anstrebt, scheint Michael Dukakis bereits geschafft zu haben. Der diesjährige Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei in den USA hat in Massachusetts den Strukturwandel zur postindustriellen Wirtschaft vollzogen. Bei seinem ersten Amtsantritt als Gouverneur im Jahre 1975 befand sich Massachusetts am Tiefpunkt seiner wirtschaftlichen Entwicklung. Die Arbeitslosenquote lag mit zwölf Prozent deutlich über dem nationalen Durchschnitt, und in der Hitliste des Geschäftsklimas belegte es den 46.Platz unter 48 Bundesstaaten. Heute hingegen erfreut sich dieser Staat im Nordosten der USA einer großen Beliebtheit in der Geschäftswelt und weist mit 3,2 Prozent eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten aus. Dabei hat Massachusetts allein in den letzten vier Jahren 91.000 industrielle Arbeitsplätze verloren. Doch rasches Wachstum in den High-Tech-Sektoren, in den finanziellen Dienstleistungen und in der Gesundheitsversorgung haben diese Verluste mehr als wettgemacht.

Doch was steckt hinter dieser Erfolgsstory? Natürlich ist der Wirtschaftsaufschwung nicht allein dem „Duke“ zu verdanken. Zwar sah die Zukunft von Massachusetts Mitte der 70er Jahre nach dem Niedergang der Werft-, Schuh- und Waffenindustrien düster aus, aber einige Strukturmerkmale seiner Wirtschaft sollten sich für den kommenden Boom als günstig erweisen. Dazu gehört der wissenschaftlich -technische Komplex um das „Massachusetts Institute of Technology“ (MIT), das als Geburtshelfer vieler Computerfirmen diente und selbst große Summen für rüstungsbezogene Forschungsprojekte akquirieren konnte. Außerdem konnte Boston als traditionelles Finanzzentrum in New England von der Internationalisierung der Kapitalströme profitieren und es bestand ein reichliches Angebot an gut ausgebildeten Arbeitskräften. Zudem lagen die Löhne für Industriearbeit leicht unter dem nationalen Durchschnitt und zum Teil erheblich unter denen, die in Regionen der Schwer und Autoindustrie gezahlt wurden. Schließlich wirkte sich die Bevölkerungsstagnation günstig auf die Arbeitslosenstatistik aus.

Im Gegensatz zur Freien-Markt-Ideologie Reagans half die Landesregierung der Wirtschaft mit zahlreichen Programmen auf die Sprünge. Sie schuf öffentliche Entwicklungsfonds, die für Firmenneugründungen, Ausbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, Infrastrukturinvestitionen und Technologieparks zumeist die Hälfte des Startkapitals stellte.

Für einige dieser Programme hatten Bürgerinitiativen und Gewerkschaften die Idee geliefert. Deren Vorstellungen, die auf eine Verwendung dieser Fonds zugunsten der Unterprivilegierten sowie des Umweltschutzes abzielten, stießen jedoch in der ersten Amtszeit von Dukakis auf wenig Gegenliebe in der Geschäftswelt. Die Unternehmen waren primär an einer Verringerung der Steuerlast interessiert und betrachteten Stadtteil-Entwicklungsfonds als eine Belastung des Staatshaushalts. Letztlich hat sein sozialreformerischer Anfangselan dem „Duke“ das erste Regierungsamt gekostet. 1978 unterstützten die Unternehmen erfolgreich einen wesentlich konservativeren Gouverneurskandidaten, unter dem eine drastische Senkung der Grundsteuern durchgeführt wurde. Korporatismus statt Konflikte

Die amtslosen Jahre nutzte Dukakis, um sein Verhältnis zur Geschäftswelt zu verbessern. Nachdem er 1983 erneut zum Gouverneur gekürt wurde, bekannte er sich zu einer konservativen Ausgabenpolitik und bezog die Industrieverbände frühzeitig in die Planung seiner Regierungsvorhaben ein. Indem er wichtige Gesetzesinitiativen im parlamentarischen Vorfeld zwischen Kapitalgruppen und Bürgerinitiativen sowie Gewerkschaften aushandelte, konnte er öffentliche Kontroversen weitgehend vermeiden. Innerhalb dieses korporatistischen Arrangements befanden sich jedoch die progressiven Kräfte deutlich in der schwächeren Position. Beispielsweise hatte Dukakis den Gewerkschaften versprochen, die Unternehmen gesetzlich zu einer frühzeitigen Ankündigung von Massenentlassungen zu verpflichten. Stattdessen blieb der Ankündigungstermin dem Ermessen der Unternehmer ebenso überlassen wie die Zahlung einer 90tägigen Überbrückungshilfe. Zwar wurde als Novum in den USA eine Krankenversicherungspflicht für alle Unternehmen ab einer bestimmten Mindestgröße eingeführt, aber zum einen sind nur Krankenhausaufenthalte versichert und zum anderen werden den Unternehmen vom Staat die Kosten weitgehend übernommen. Seit 1982 soll die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in Massachusettes um mindestestens 25 Prozent gesunken sein.

Dukakis konnte mit einer zahlungskräftigen Unterstützung seiner Kandidatur rechnen. Vor allem die High-Tech -Industrien, die sich in einer erbitterten Konkurrenz zu den Japanern befinden, zeigen sich spendierfreudig. Sie und einige Manager anderer Unternehmen, wie beispielsweise Lee Iacocca von Chrysler, fordern seit langem eine aktivere Rolle des Staates im industriellen Wettkampf der Nationen. Für sie war die Reagansche industriepolitische Strategie von nur zweifelhaftem Nutzen gewesen. Deren Hauptstoßrichtung, nämlich durch das Laufenlassen der Marktkräfte die Preise für Inputs (vor allem für Arbeit) zu senken, hatte auch den negativen Effekt, daß ein Teil der Unternehmen durch die Konkurrenz selbst an den Rand des Ruins gebracht wurde. Die Reagansche Politik der Schwächung der Gewerkschaften dagegen hatte für die Technologie-Branche ohnehin kaum Bedeutung, da ihre Belegschaften in keinem nennenswerten Maß gewerkschaftlich organisiert sind. Auch die Rüstungsaufträge waren für größere High-Tech-Firmen nur begrenzt interessant, weil sie aufgrund der Spezialisierung in der Rüstungstechnik nicht die Wettbewerbsfähigkeit auf den zivilen Märkten erhöhten. Vielmehr geht es Industriezweigen primär um niedrige Kapitalkosten, Förderung zwischenbetrieblicher Forschung und Qualifizierung von Arbeitskräften. Freilich sollten diese Ziele ohne Kürzung des Rüstungsetats verwirklicht werden.

Diesen Forderungen verleihen zahlreiche liberale oder sozialdemokratische Wissenschaftler das nötige wirtschaftstheoretische Fundament. Es ist nicht überraschend, daß viele dieser Professoren an Universitäten lehren, die sich in den Zentren der High-Tech-Industrie befinden, wie Boston oder Berkeley, und sich zum Beraterkreis von Dukakis zählen. Einige haben sogar Baden -Württemberg als Vorbild entdeckt, weil es ihnen als besonders gelungenes Beispiel für eine „Strategie der flexiblen Spezialisierung“ erscheint. Späth for President

Wird das Zeitalter des Späth-Kapitalismus in den USA ausbrechen, falls es der „Duke“ zum Präsidenten schafft? Es läßt sich aber vorhersehen, daß das „Modell Massachusetts“ nicht einfach auf die gesamte USA übertragbar ist. Zum einen kann nicht die ganze USA zu einem einzigen Zentrum der High -Tech-Industrie und Finanzverwaltung werden. Zum anderen herrscht auf nationaler Ebene ein anderes Kräfteverhältnis vor als in Massachusetts. Viele Industrien und Dienstleistungsunternehmen (z.B. McDonalds) werden auch weiterhin auf ihrer klassischen, unkorporativen Betriebsstrategie beharren. Noch hat sich Dukakis mit Hinweisen auf seine Erfolge in Massachusetts, den Haushalt durch verbesserte Steuereintreibungsmethoden zu sanieren, auf keine Steuererhöhungen festlegen lassen. Es wird spannend werden 'ob der „Duke“ weiter eine expansive Wirtschaftspolitik betreiben wird oder, wie Carter ab 1978, dem Druck der Befürworter einer „soliden Haushaltspolitik“ erliegen wird.

Wenn auch nicht mit einer direkten Übertragung des „Modells Massachusetts“ gerechnet werden kann, so scheinen aber mit einem Wahlsieg der Demokraten die Tage der ideologischen Ablehnung von gezielten strukturpolitischen Maßnahmen in den USA gezählt zu sein.