Mit Hölderlin gegen die Kohl-Plantage?

■ Linke und Spiritualität: Deutsch-deutsche Visionssuche auf einer Diskussionsveranstaltung im Statthaus Böcklerpark

Die derzeitige Entwicklung der deutschen Frage beunruhigt viele BerlinerInnen dies- und jenseits der Mauer. So wollten sich Freitag abend weit mehr Menschen auf gemeinsame Visionssuche begeben als das Statthaus Böcklerpark überhaupt fassen konnte - und das bei gesalzenen 15 DM für eine Podiumsdiskussion! Das Motto war vielversprechend: Deutsch -deutsche Visionssuche klingt nach möglichen linken Alternativen zur offiziellen Deutschlandpolitik.

Zunächst ging es vor allem um die Kritik an bestehenden Visionen. Einig war sich das Podium in seiner Verurteilung der derzeitigen Deutschlandpolitik. Petra Kelly sieht in der deutschen Einheit eine Bedrohung fürs Ausland. Statt abzurüsten, würden Waffengeschäfte aus der BRD immer eleganter, sie forderte deshalb Perestroika im Westen. Bärbel Bohley vom Neuen Forum macht die Einigkeit innerhalb der beiden deutschen Staaten Sorge: von Modrow bis zum 'Spiegel‘, ein mir zu einig Vaterland.“ Rudolf Bahro beschrieb die gesamtdeutsche Autogesellschaft, die erstmal wieder lernen müsse, daß man Geld nicht essen könne. Denn „Weltmarkt und Weltzerstörung ist dassselbe“. Und der Zukunftsforscher Rüdiger Lutz warnte vor der Überbewertung der deutschen Entwicklung und vor Eurochauvinismus. Global denken sei angesagt.

Die problematische Identität als Deutsche/r spielte auch in diesem Kreis eine wichtige Rolle. Während Petra Kelly das Bild vom „häßlichen Deutschen“ malte und ihre Parteigenossin Eva Quistorp solchen Pessimismus als „typisch deutsch“ kritisierte, erinnerte der Wiener Religionsphilosoph Prof. Arnold Keyserling an die reiche deutsche Geschichte. Sie sei nur verschüttet. Der Geist von Goethe, Kant und anderen großen deutschen Denkern müsse wiederbelebt werden. Rudolf Bahro plädierte für eine Art „Geisterbund“ im Sinne Hölderlins, der eine neue Zivilisation erschaffen könne.

Alt-Apo-Aktivist Rainer Langhans und der Schriftsteller Jochen Kirchhoff versuchten, eine deutsche Vision über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu entwickeln. Die Nazis hätten mehr als alle anderen Bewegungen die Deutschen motiviert - aber wie das möglich war, sei immer noch unklar. „Jetzt haben wir vielleicht die Chance, den Nationalsozialismus gemeinsam mit dem Stalinismus aufzuarbeiten, in tiefere Schichten unseres Bewußtseins einzudringen, so der Berliner Kirchhoff. Aber von denen, die sich damit beschäftigen, hört man gar nichts. Sie vertreiben sich ihre Zeit in teuren Workshops und Therapien. „Vision hat sich ins Private zurückgezogen“, bedauerte Keyserling. Spirituelle Erkenntnisse müßten aber unbedingt in die soziale Gemeinschaft einfließen. Bärbel Bohley, der einzigen echten DDR-Bürgerin auf dem Podium, war das denn alles ein bißchen zu abgehoben. „Ich komme mir vor wie in einem Exquisitladen. Ihr streut etwas Kunstdünger, und wir gehen alle wieder zu unseren Problemen nach Hause.“ Großer Applaus - zu Recht.

Annette Meyer