■ Europa und die bosnischen Muslime
: Versager aller Länder, verteidigt Euch!

Manchen mag es zu pathetisch klingen, aber es ist nun mal so: Ich schäme mich. Wir, eine Generation, die im Namen einer solidarischen Utopie die Generation unserer Eltern für ihr politisches Versagen so verachtet hat, schauen hilflos, machtlos und scheinheilig zu, wie die bosnischen Muslime vertrieben werden. Nun stehen wir genauso nackt vor dem „Urteil der Geschichte“. Erinnern wir uns: 1936 schauen französische und englische Demokraten zu, wie der spanische Faschismus, unterstützt von Hitlers Wehrmacht, die spanische Republik in Blut ertränkt. 1938 „retten“ diese gleichen Demokraten „den Frieden“, indem sie Hitlers ethnischen Feldzug zur Unterstützung der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei gewähren lassen. 1943 schaut die Welt immer noch zu, als der jüdische Widerstand im Ghetto von Warschau ohne Unterstützung untergehen muß. 1944 lehnen es die Alliierten ab, die Bahnlinien nach Auschwitz und Treblinka zu bombardieren, weil es sich nicht um „sinnvolle Kriegsziele“ handelt. Wir reihen uns in diese glorreiche Tradition ein.

Und ich? Ich glotze mit Tränen in den Augen die Tagesthemen und muß erfahren, daß bosnische Muslime, also Europäer, gegen ihren Willen nach Pakistan und Malaysia verfrachtet werden, damit die kroatische Küste für europäische Touristen ethnisch gereinigt wird. Was unterscheidet uns von den Amerikanern, Schweizern und Engländern, die es 1939/40/41 den Juden so schwer gemacht haben, ihr Leben zu retten? Wo sind die Klugscheißer, die von einer anderen Politik, einer zivilen Intervention sprechen? Wo sind die Internationalisten, die im Namen des Sozialismus jede, aber auch jede terroristische oder auch pazifistische Befreiungsbewegung in Salvador, Nicaragua und anderswo unterstützt haben? Und ich? Ich kann kaum noch den bosnischen Muslimen in Frankfurt in die Augen sehen. Die Stadt Frankfurt, das Land Hessen, die Bundesrepublik Deutschland, eine gut geölte, schwarz-rot-grün-gelbe Koalition, wir alle sind nicht fähig, Angebote zu machen, damit die Flüchtlinge wenigstens in Frankfurt, in Deutschland, in Europa aufgenommen werden können.

Versager aller Länder, vereinigt Euch! Habt jetzt wenigstens den Mut, massenhaft die Aufnahme der bosnischen Flüchtlinge hier in Europa zu organisieren, von Paris bis Berlin, über Rom, Amsterdam, London müssen wir es herausschreien: Weil wir zu feige sind, den Muslimen in Bosnien militärisch zu helfen, müssen wir ihnen zumindest in Europa einen Lebensraum garantieren.

Ich weiß, daß diese Zeilen wie eine billige Abrechnung klingen könnten. Aber nach dem Versagen der europäischen Politik in Sarajevo, Tuzla und Goražde weiß ich nicht mehr, was uns legitimiert, im Namen einer menschlichen Solidarität weiterhin politisch tätig zu sein. Wir sind doch diese politischen Hampelmänner, die nichts, aber auch gar nichts durchsetzen können! Und ich sehe ihn schon, den nächsten schwarz- rot-gelben oder auch grünen Außenminister, der bald wieder mit den Herren Tudjman und Milošević über die Zukunft Europas verhandeln wird. Wie immer wird die Geschichte die Sieger verewigen und die Verlierer schnellstens vergessen. Die Pazifisten, die hochdotierten Militärstrategen, die Augsteins und die Majors werden uns weismachen, daß dies alles traurig sei, aber die Entscheidung für eine Militärintervention, die eine Feuerpause ohne Landgewinne durchgesetzt hätte, alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Es fragt sich nur, für wen? Was bedeutet schon die Idee einer multiethnischen Republik in Bosnien? Was bedeuten uns schon die Muslime, die gehören doch nach Pakistan oder Malaysia, aber nicht nach Europa. Die Herren Kohl, Kinkel und Mitterrand, die in Kopenhagen angeblich zwölf Stunden so leidenschaftlich über Bosnien gestritten haben, haben keine Sekunde lang darüber nachgedacht, daß sie für die Aufnahme bosnischer Flüchtlinge in Europa verantwortlich sind. Wie kann man den Attentätern von Mölln und Solingen klarmachen, daß sie von ihrem Tun ablassen müssen, wenn die ethnischen Säuberungen überall so ungeheuer „erfolgreich“ und ungestraft vonstatten gehen?

Heute, hier und jetzt, wird eine neue Generation von „Terroristen“ geboren. Bald werden wir erneut entsetzt sein über die angerichteten Blutbäder, kluge Kommentatoren werden an den Juni 1993 erinnern, als Bosnien starb, und bewegte Pazifisten werden im Namen der Selbstbestimmung der Völker einen Staat für die vertriebenen Muslime fordern. Dann werden wir, als vergreiste Politiker, aus Pietät in den letzten Reihen mitmarschieren, vor uns ein Transparent mit der Aufschrift: „Wir haben versagt, weil wir unseren schäbigen Egoismus mit einer wohlgemeinten pazifistischen Utopie vernebelt haben.“

Manchmal gibt es etwas Wichtigeres zu verteidigen als die Illusion vom Frieden, nämlich das Überleben von Menschen. Dazu waren wir zu feige. Nehmen wir nun wenigstens die Flüchtlinge unserer Feigheit auf. Daniel Cohn-Bendit

leitet das „Amt für multikulturelle Angelegenheiten“ in Frankfurt am Main