Somnamboulevard – August, Nintender, September Von Micky Remann

Dieses Mädchen aus dem Eilzug wuchs zum adretten Fräulein heran und lernte beim Schützenfest in Bad Bevensen, wo sie prompt zur Schützenkönigin gewählt wurde, einen Herrn kennen, der erstens sein Auge auf sie geworfen hatte und sich zweitens als Marketingexperte ausgab.

Um seinem unter „erstens“ angestrebten Abbau von Gefühlsstauungen näher zu kommen, verwickelte er Lila I., so hieß die Königin, in Gespräche, die sich aber meist um „zweitens“ drehten, ohne daß ihn das seinem unter „erstens“ genannten Ziel näherbrachte. Die Schräglage der Prioritäten fiel beiden auf, änderte aber nichts an ihrem Verhalten, und so blieb es der bildhübschen Königin – ihre Augen schimmerten wie alabasterne Samtpfoten – nicht erspart, am Stammtisch beim großen Fest- und Ehrenball der Bad Bevensenschen Schützenvereine folgendem zu lauschen: „Ich habe mir in langen Nächten viele Gedanken gemacht“, verriet der Marketingexperte, während er ihr behutsam ins Dekolleté schaute, „welches Produkt für alle Menschen zu allen Zeiten und auf allen Planeten eine hundertprozentige Marktchance hat. Dabei bin ich nach eingehenden Analysen zu dem unumstößlichen Ergebnis gekommen, daß es ein einziges Produkt gibt, das diese Kriterien erfüllt: Zeit. Alle wollen mehr davon, nie hat jemand genug, also eine Riesen-business-opportunity. Leider wird aber unsere chronologische Echtzeit von irreversiblen himmelsmechanischen Prozessen bestimmt, die sich auch bei noch so hohem Kapitalaufwand unserer Einflußnahme entziehen. Was liegt da also näher, als eine virtuelle Parallelzeit zu schaffen, die längs zur Echtzeitachse läuft, ohne dort aber kalendarisch zu Buche zu schlagen? Meine diesbezüglichen Pläne sind übrigens schon so weit gediehen“, verriet der Herr im Festzelt, „daß wir gleich im Anschluß an den August den allerersten virtuellen Zusatzmonat eröffnen werden. Da ich die Computerspielfirma Nintendo als Sponsor gewinnen konnte, wird der neue, zwischen August und September eingeschobene Monat ,Nintender‘ heißen. Die Sache läuft dann so, daß du erst mal beim Nintendo-Vertragspartner so einen Nintender buchst. Dann wird dafür gesorgt, daß du die gewöhnliche Zeitrechnung am 31. August verläßt und dich in einen kompletten dreißigtägigen Parallelmonat begibst – den virtuellen Nintender. Er endet pünktlich zum 1. September, so daß du zurück in den normalen Kalender einsteigen wirst. Du kannst dich also am letzten Augusttag getrost mit deinem Freund ,für morgen‘ verabreden und rechtzeitig zum Treffen erscheinen. Für ihn wird dann nur eine Nacht verstrichen sein, du hingegen, als Nintenderkundin, wirst inzwischen die Zeit eines ganzen Freimonats erlebt haben. Innerhalb des Nintenders hast du selbstverständlich die Freiheit, dich mit so vielen Nintenderbewohnern zu verabreden, wie du willst – ohne daß dein Septemberfreund etwas davon erfährt.

Apropos, schöne Königin Lila I., es werden da noch Probezeitbenutzer gesucht, Kost und Logis umsonst, und hättest du nicht Lust, mich in den virtuellen Nintender...“

Und also kriegte er doch noch die Kurve zu „erstens“.