■ Interview mit Egon Bahr über die Situation in Moskau
: Warten auf den „Nachfolger des Nachfolgers“

taz: Wie ist Ihre Prognose? Wird sich die Situation in Moskau dramatisch zuspitzen?

Egon Bahr: Ich hoffe nicht. Aber niemand kann Ihnen diese Frage heute mit Gewißheit beantworten.

Denken Sie denn, daß am Ende dieses Machtkampfes eine klare Entscheidung stehen wird, oder wird es weiter dieses System der Doppelherrschaft geben?

Ich glaube, daß die Zuspitzung – für mich nicht überraschend – jetzt zu einem Grade gediehen ist, daß am Ende eine klare Entscheidung herauskommen muß. Entweder: Jelzin wird sich halten, oder Ruzkoi wird an seine Stelle treten. Das Nebeneinander ist jetzt zu Ende. Im Grunde muß man davon ausgehen, daß Jelzin Zeit hatte, sich für diese Kraftprobe vorzubereiten. Ob er stark genug ist oder die nötigen politischen Kräfte hinter sich hat, wird man sehen. Ich bin immer der Auffassung gewesen, daß Jelzin sich nicht so lange halten wird wie Gorbatschow und daß der Nachfolger Jelzins auch nur eine Übergangslösung sein wird. Der Nachfolger des Nachfolgers könnte die Chance haben, das Land zu stabilisieren.

Und wird es bei dem Nachfolger des Nachfolgers auch einen Generationenwechsel geben?

Das ist eine absolute Notwendigkeit, wobei man hinzufügen muß, daß es überhaupt niemanden gibt in diesem Land, der nicht das Ergebnis der Erziehung des alten Systems ist. Diejenigen, die heute in Moskau das Sagen haben, mögen soviel sie wollen versuchen, nach Westen zu denken. Aber sie sind damit noch nicht imstande, westlich zu denken. Der Nachfolger des Nachfolgers wird jedenfalls den Vorteil haben, einer anderen Generation anzugehören, und wird dazu vielleicht eher in der Lage sein.

Wird er auch Kompromisse schließen können? Man hat ja den Eindruck, als ob ein Teil der realsozialistischen Sozialisation darin besteht, alle Fragen nur sinnlos polarisieren zu können.

Das seh' ich nicht so. Insgesamt muß man doch feststellen, daß in Rußland, aus welchem Grunde auch immer – sei es aus Sorge oder mit dem Blick nach Jugoslawien –, sehr vorsichtig miteinander umgegangen wird, de facto ziemlich weise gehandelt wird, jedenfalls Gewalt ausgeschlossen wird. Radikalverbalismus, ja. Aber nicht mit dem Finger am Abzug.

Hat Jelzin die Bevölkerungsmehrheit noch hinter sich, oder ist sie seit dem Referendum abgebröckelt?

Er hat schon Verluste erlitten. Ob das ausreicht, was er noch hinter sich hat, werden wir ja in den nächsten Tagen sehen.

Und das Militär?

Ich weiß gar nicht, was das ist, die Armee. Ich weiß nicht, ob es die russische Armee in der Form, in der wir gewohnt waren, an sie zu denken, überhaupt noch gibt. Es gibt selbstverständlich in der Armee Auflösungserscheinungen, und die Armee ist vielleicht gar nicht mehr als Einheit einsetzbar.

Auch nicht für Ruzkoi?

Wenn das gilt, dann für beide.

Das heißt, die Armee wird nicht den Ausschlag geben, sondern entscheidend wird sein, wie die Bevölkerung sich verhält.

Man kann das hoffen. Denn wenn ein Teil der Armee sich einmischt, wird ein anderer Teil sich auch einmischen, und dann haben wir einen Bürgerkrieg oder einen Krieg von Armeen oder Warlords. Das gehört zu den schrecklichen Möglichkeiten, die man für das Land sieht.

Die Sie auch nicht ausschließen würden?

Nein, kann ich leider nicht.

Die Machtverhältnisse in den Provinzen sollen ja ganz anders aussehen als in Moskau. Jelzin soll nur mit Moskau sicher rechnen können. Ist das auch Ihre Einschätzung?

Ja! Da wird es natürlich noch andere Inseln der Loyalität zum Präsidenten geben. Aber wie weit die reichen? Wir hätten ja nicht zum ersten Mal eine Situation in Rußland, wo politische Entscheidungen in ein, zwei, maximal drei Zentren getroffen werden und das Land sich dem anpaßt.

Clinton und die westlichen Staaten haben sich eindeutig hinter Jelzin gestellt. Karsten Voigt hat gestern in einer ersten Stellungnahme gesagt, man solle das gerade nicht tun, sondern allgemein für eine demokratische Entwicklung plädieren.

Erstens wäre es schon ein bißchen komisch, wenn der amerikanische Präsident in zwei, drei wichtigen Sachen vom Kongreß gestoppt würde, dann ans Mikrofon ginge und sagen würde: Ich löse den Kongreß auf, und wir dann sagen würden: Aber wir sind für Clinton. Nun kann man das nicht gleichsetzen. Aber es ist schon merkwürdig, etwas unter dem Signum der Demokratie zu unterstützen, was nun zweifellos ein Staatsstreich ist – auch wenn der vielleicht notwendig ist. Ich denke, daß den westlichen Regierungen nichts anderes übrigbleibt, als den Mann Nr. 1 in Rußland zu stützen, solange es ihn gibt. Und dann den nächsten zu stützen, solange es den gibt. Denn die Regierungen können nur mit den jeweiligen Regierungen zusammenarbeiten.

Konservative Politikberater wie Michael Stürmer sagen, man solle nicht allzu zimperlich sein, wenn in Moskau zum Erhalt der Stabilität zu Mitteln gegriffen würde, die nicht ganz unserem demokratischen Verständnis entsprächen. Glauben Sie, daß es eine Bereitschaft in den westlichen Ländern gibt, da beide Augen zuzudrücken – nur um den Preis der Stabilität?

Ich hoffe das sehr. Denn es wäre eine Katastrophe, wenn man an Rußland die weder subjektiv noch objektiv erfüllbare Voraussetzung knüpfen würde, zu sagen: Rußland muß eine funktionierende, demokratische soziale Marktwirtschaft haben, bevor wir ernsthaft mit Rußland reden oder es unterstützen. Das wäre kompletter Wahnsinn. Rußland ist gezwungen – wenn es sich nicht um eine Überforderung seiner Menschen handeln soll –, gemäß seiner Möglichkeiten und Traditionen den Weg in Richtung Demokratie, den Weg in Richtung Marktwirtschaft einzuschlagen. Es wird weder, was die Demokratie angeht, in den nächsten fünf Jahren Verhältnisse und Kriterien entwickeln, die sich an westeuropäischen Maßstäben messen lassen. Noch auf dem Gebiete der Wirtschaft eine Marktwirtschaft in den nächsten zehn Jahren erreichen, die westeuropäischen Kriterien entspricht. Das ist unmöglich. Das kann man nicht erwarten. Eine Ordnung, auch wenn sie meinen demokratischen Vorstellungen nicht entspricht, ist doch besser als ein Chaos, das im Blut versinkt. Interview: Antje Vollmer

Bahr gilt als Architekt der Entspannungspolitik. Er leitet heute das Hamburger „Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“