Die Maßstäbe der praktischen Vernunft

Ein Tag im AKW Krümmel zwischen Technikgläubigkeit und beinahe religiösem Fanatismus: Eine Reportage von  ■ Heike Haarhoff (Text) und Henning Scholz (Fotos)

Der tonnenschwere Kran gleitet beinahe lautlos an der Hallendecke entlang. Gemächlich, aber zielstrebig nimmt er Kurs auf das Abklingbecken. An seinem tentakelartigen Teleskoparm baumelt radioaktiver Abfall, vier Meter lange spargelförmige, uranhaltige Brennstäbe. Deckenstützen-Pfeiler auf Baustellen sehen ähnlich aus. Gefischt hat er sie aus 28 Meter Tiefe, aus dem Herzen des Reaktordruckbehälters. Der monströse Kran hievt die verstrahlte Fracht durch die beiden Schwimmbecken des fußballfeldgroßen Brennelemente-Lagerraums, tunlichst unter Wasser, bis er sie schließlich in den Tiefen des Abklingbeckens versenkt.

Brennelemente-Wechsel im Atomkraftwerk Krümmel, Deutschlands größtem Siedewasserreaktor in bester Elblage nahe der Kleinstadt Geesthacht in der Elbmarsch. Jedes Jahr im Spätsommer schalten die norddeutschen Energieversorger PreussenElektra und Hamburgische Electricitätswerke (HEW) als AKW-Betreiber die Produktion für fünf bis sechs Wochen ab. Anders ist der Zugang in den Kontrollbereich nicht möglich. Eine „Routineangelegenheit“, wie die Betreiber versichern. In diesen Tagen wird ihr „technisch-wieder-anfahrbereit“-Signal erwartet.

Wasser ist wie ein Bleikittel beim Röntgen. Es hält Strahlung ab und kühlt zugleich die noch glühenden, schrottreifen Brennelemente. Deswegen dürfen die nach dem Wechsel erstmal baden. Bis sie zur „Wiederaufbereitung“ – dabei werden Uran und Plutonium zu neuen Brennelementen verarbeitet – in Castorbehältern in Anlagen wie ins französische La Hague transportiert werden. 840 Brennelemente insgesamt erzeugen in dem mehr als 50 Meter hohen und über 800 Tonnen schweren Reaktordruckbehälter in Krümmel Strom aus Uran; jährlich müssen 140 von ihnen gegen neue ausgetauscht werden. Energietechnisch untauglich, dafür weiterhin gesundheitsgefährlich.

Der Kran ist computergesteuert. Ihn aufhalten zu wollen, käme einer todsicheren Verzweiflungstat gleich. Da helfen auch keine weißen Arbeitsschutzhelme oder propere Strahlenschutzanzüge aus Baumwoll-Latexgemisch, die Arbeiter wie Besucher hier im fensterlosen Hochsicherheitstrakt in schwindelerregender Höhe (52,5 Meter) tragen müssen.

Pink Floyd könnte sich hier inspiriert haben lassen. Krümmel hat etwas von dieser bedrückenden Atmosphäre, dieser Ohnmacht des Einzelnen angesichts einer gigantischen Maschinerie aus Kabeln, Rohren, Gittern, Turbinen, endlosen Gängen, durch die es hallt und die längst zu den festen Show-Effekten bei Konzerten jener Band gehören.

Nur daß die Auftritte in Krümmel aus Sicherheitsgründen weitestgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmt stattfinden und außerhalb des AKWs weniger Begeisterungsstürme als Klagen bis vor das Bundesverwaltungsgericht auslösen.

Den in Krümmel Beschäftigten liegt nichts daran, das System in Frage zu stellen. 370 Angestellte aus Geesthacht leben vom Geschäft mit der Kernspaltung, das 1983 an der Unterelbe seinen Betrieb aufnahm. Dazu kommen 50 Wächter. Und während der mehrwöchigen Jahresrevision verbucht das örtliche Hotel- und Gaststättengewerbe glänzende Einnahmen. 1000 zusätzliche Ingenieure, Atomphysiker und externe Gutachter aus dem ganzen Bundesgebiet zieht es dann hierher, an der Atomkraft zu verdienen, die zu überwachen, prüfen, kontrollieren und vor allem beherrschen zu können sie glauben. „Nach den Maßstäben der praktischen Vernunft ist ein atomarer Störfall in Krümmel auszuschließen“, behauptet der Technische Leiter des AKW, Peter Gerbes, und es klingt, als spräche er von einer religiösen Überzeugung.

Gerbes spielt die Rolle des aufgeschlossenen Managers im Dienste der HEW, der nichts zu verbergen hat. Bereitwillig führt er Besuchergruppen – nach Anmeldung, Paß- und Fotokontrolle, Sicherheits-check und Strahlenmessung – ins Innerste des Reaktors, bis an die gefürchteten Schweißnähte heran.

Denn er weiß: Mit Vorwürfen wie überhöhten radioaktiven Cäsium-Werten ungeklärter Herkunft im Regenwasser der Reaktorumgebung, Rißbildungen im Rohrleitungssystem, „chronischen Leckagen“ (die Bremer Physikerin Ingeborg Schmitz-Feuerhake), mehrfachen Stillständen und jüngst die Schreckensmeldung, mit der das Fernsehmagazin Monitor die Reaktorsicherheit in Frage stellte, ist offensiv umzugehen. Beim Zusammenschweißen des Reaktordruckbehälters soll gepfuscht, die Einzelteile in einem unzulässigen Hydraulikverfahren verformt worden sein. Der Kantenversatz an den Nahtstellen müßte demnach haarsträubend sein. Gerbes verzieht keine Miene: „Da werden Themen instrumentalisiert, um Politik zu machen.“

Allein das „Einschleusen“ in den Kontrollbereich durch eine Personenschleuse hat für viele Besucher etwas vom Kick des Abenteuers. Mit weißen Kitteln und Helmen bekleidet konnte man ja schon vorher gewichtig durch das AKW laufen, wohlwissend, daß alle dort Beschäftigten einen sofort als Tourist erkennen würden. Jetzt aber gilt es, über die „normalen“ Straßenschuhe unförmige, weiße Stoff-Schluffen – Einheitsgröße 46 – mit Gummizug überzustülpen und die Hände mit ebenso dünnen Stoffhandschuhen zu bedecken. Als sei radioaktive Strahlung wie Kohlenstaub abzuwischen. Doch die Stoffschuhe, beteuert Gerbes, haben tatsächlich eine Berechtigung. „Sie dürfen alles mit hinein bringen, aber nicht alles hinausbringen“, erklärt der Fachmann „das Prinzip“. Etwaige radioaktive Staubpartikelchen sollen an den Schuhen hängen und anschließend in diesem Teil des Reaktors liegenbleiben.

Das Verbiegen des Körpers beim Eintreten durch die enge Personenschleuse hat sich gelohnt. Über den Köpfen nichts als Kabel. Wie miteinander kämpfende Schlangen sehen sie aus, wohin sie führen, wie und wer sie jemals entwirren können sollte, bleibt ein Rätsel. „Sie stehen jetzt unter dem Reaktordruckbehälter, und der wiegt 800 Tonnen.“ Unwillkürliches Zurückweichen seitens der Besucher. Nicht doch, keine Angst. Da stürzt nichts ein.

Das Reich der Strahlung. Das Meßgerät zählt. 5,6,9 Mikrosievert. Wieviel ist, wie gefährlich ist das? Beim Verlassen nach zweieinhalb Stunden haben die meisten Besucher zwischen 20 und 24 Mikrosievert „getankt“. Gerbes lacht: Arbeiter dürfen bis zu 1000 täglich, 55.000 Mikrosievert jährlich. Immer noch keine Erklärung über mögliche Schädigungen durch die Radioaktivität. Ein willkürlich festgelegter Grenzwert als vermeintliche Garantie auf körperliche Unversehrtheit.

Ein AKW ist ein Labyrinth. Durch Gänge, Absperrungen, an digitalen Meßgeräten vorbei geht es über eine Wendeltreppe – endlich – zu den Schweißnähten an der Außenseite des Reaktordruckbehälter. „Damit Sie sich selbst ein Bild machen können“, sagt Gerbes. Fotoapparate werden gezückt. Ist der Behälter wirklich rostig oder sieht er nur so aus? Überprüfen können Laien hier sowieso nichts, und auch die Fachleute haben es schwer, weil selbst die Prüfverfahren umstritten sind. Und so kann man immer nur hoffen, daß die anderen ihre Sache schon richtig machen werden, und sich einreden, daß doch eigentlich hoffentlich nichts passieren kann.

Gerbes selbst klettert waghalsig – der Spalt zwischen Reaktorwand und Klettersteig ist metertief – über eine Leiter so nah heran, daß selbst der aufgeregt herbeieilende Arbeitsschützer nur noch mit dem Kopf schüttelt, „er ist eben der Chef hier...“ „Na“, Gerbes blickt herausfordend in die geladene Journalistenrunde, „ist doch alles glatt hier, da ist kein Kantenversatz, nein, nein...“ Mit Ultraschall werde alles ganz genau kontrolliert, nur keine Panik. Nix trete da aus, gar nix.

„Kleinere Abweichungen“, erklärt er, seien „unvermeidlich“, wenn man die unförmigen Versatzstücke so eines Reaktordruckbehälters – 7 Meter Durchmesser, 23 Meter Gesamtlänge, 800 Tonnen Gesamtgewicht – zusammensetze. Den ungeheuerlichen Kantenversatz, den Monitor festgestellt haben wolle, habe es tatsächlich gegeben; allerdings vor dem Zusammenschweißen. Mit hydraulischem Pressen habe man die Ringe dann aber in Form gebracht, „ein Standardverfahren“, sagt Gerbes, als suche er einen lungenkranken Patienten zu beruhigen, eine Transplantation sei ein Kinderspiel.

Weshalb das Kieler Energieministerium als Landes-Reaktoraufsichtsbehörde dann jetzt Sonderprüfungen und die Staatsanwaltschaft Ermittlungen eingeleitet haben? Warum Hunderte von Menschen aus der Region für eine sofortige Stillegung des Atommeilers protestieren? Warum selbst das Berliner Bundesverwaltungsgericht jüngst entschied, die ungeklärt hohe Zahl von Leukämie-Erkrankungen in der Region sei bei der Erteilung von Betriebsgenehmigungen für Krümmel zu berücksichtigen? „Das Kernkraftwerk Krümmel scheidet als Verursacher aus“, sagt Gerbes.

Wenn Technikgläubigkeit in religiösen Fanatismus umschlägt, wird sie gefährlich.