„Für Psychiatrie-Schocks gibt es keine Therapie“

■ Sie erzählen von Demütigung, Ignoranz und Angst – und sind die eigentlichen ExpertInnen in Sachen Psychiatriereform: Ein Besuch beim Bremer Arbeitskreis „Psychiatrie-Erfahrene“

ch muß doch auch mal rumschreien dürfen“, sagt Wiebke H.* und beugt sich weit nach vorne in die Runde. Laut und aufgeregt erzählt die dunkelblonde Frau, daß sie im Zentralkrankenhaus Ost in der psychiatrischen Abteilung mehrmals fixiert wurde, wenn dort Angst und Wut aus ihr herausbrachen. „Wenn du tobst, schallt der ,Eberhard-Ruf' durch alle Stationen, und acht bis zehn Leute kommen angerannt und fesseln dich ans Bett. – Oder du kriegst einfach die Spritze in den Arsch gejagt.“Schweigen. Torsten W. ergänzt: „Und wenn Sie dann den Pfleger noch knocken konnten, kommen Sie in Beschluß.“

Hier sitzt eine Gruppe von Menschen zusammen, die gemeinhin als „krank“gelten, psychisch krank. Sie haben psychotische Schübe, Anzeichen von Schizophrenie, schlucken Medikamente, Alkohol, nehmen Drogen, hören Stimmen, rasten aus, kommen alleine nicht mehr mit dem Leben klar. Manche von ihnen waren bereits auf Station, meist in der Akutpsychiatrie im ZKH Ost. Das Erleben von Ignoranz, Demütigung und Schocks verbindet sie. Die Schmerzen sitzen tief, und darüber wollen sie berichten – ihre Schilderungen zeigen, wie sich in ihnen „Krankheit“und Diagnose, Behandlung und Traumata fest ineinander verknotet haben.

„Ich bin jetzt so weit, daß ich mich nicht länger für gesund halte.“Karen P. – sie ist die Jüngste beim heutigen Treffen – wertet das für sich als Erfolg und wiederholt es ein paar Mal, als wolle sie sich daran festhalten. Besonnen spricht die große Frau (bestimmt erst Anfang Zwanzig) und blickt dabei in weite Ferne: Es sei vor vier Jahren bei ihr losgegangen. In der Psychiatrie in Ost blieb sie jedoch das erste Mal nicht lange. „Ich brach ab, weil ich die Krankheit nicht annehmen konnte.“

„Muß man bei einer Psychose überhaupt in die Klinik?“wirft da die Moderatorin des Kreises, Lisa Schulze-Steinmann, auf. Sie ist Sozialarbeiterin und Sozialtherapeutin, hat selbst im ZKH Ost gearbeitet und nun unter der Ägide der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie diesen Arbeitskreis „Psychiatrie-Erfahrene“gegründet. Bremen befindet sich in der vor gut 15 Jahren beschlossenen Psychiatrie-Reform derzeit immer noch in der Diskussion um die Aufweichung der alten vollstationären Behandlungskonzepte. Regionalisierung mit Tageskliniken und Krisenhäusern in den Stadtteilen ja, aber konsequent! Weg vom Ärztezentrismus! Es geht auch ohne Medikamente! – Diese Forderungen der tatsächlich Reformwilligen werden nach wie vor in den entscheidenden Gremien schwerfällig diskutiert. Die „Soteria“-Bewegung oder auch das „Weglaufhaus“in Berlin zeigen jedoch, daß anderswo bereits Alternativ-Erfolge verbucht werden (siehe auch Kasten).

Die BremerInnen aber müssen bis auf weiteres einschlägige Psychiatrie-Erfahrungen sammeln. Hugo R.s Geschichte ist entsprechend lang. Er springt hin und her beim Erzählen von Ost, von der Klinik Dr. Heines. Jetzt lebt er in einer Wohngemeinschaft der „Initiative“(... zur sozialen Rehabilitation und Vorbeugung psychischer Erkrankungen e.V.). Mit der Ruhe des Kundigen erklärt er Unterschiede, Mängel dort, Vorteile hier: „Mein Glück war die Tagesstätte in Bremen-West.“– „Da ist das Programm ganz anders“, folgt nach etwas Bedenkzeit. „Man geht um acht Uhr dreißig zur Morgenrunde hin. Dann wird gefragt: Wie fühlen sich die Leute? Es gibt Gymnastik. Es gibt Pausen. Dann Mittagessen. – Das Gesprächsangebot finde ich gut. Und die Beschäftigungstherapie. In Ost, da war es nach dem Frühstück zappenduster auf der Station.“

Hugo R. nimmt sich eine kleine Sprechpause. Man brauche eine Anlaufstelle in seinem Stadtteil um die Ecke, folgt dann noch nach. „Da ist man dann auch bekannt, und das Hingehen und Weggehen fällt leichter. Der Tag strukturiert sich.“

Auch in Ost hatte Hugo R. einmal einen Platz in der arbeitstherapeutischen Tagesklinik. „Ich wollte aber keine Kaffeekannen zusammenbauen, sondern in die Bürogruppe.“Außerdem war Ost weit weg, und Hugo R.s Motivation somit schnell auf dem Nullpunkt. „Überlegt überhaupt noch jemand, warum Psychiatrien immer in den Randgebieten sind? Die wollen uns doch loshaben.“

Verbitterung und Resignation teilen die Menschen hier am Tisch. – Am liebsten würden sie sich ja selbst helfen und zu Hause bleiben, sagen alle Anwesenden. Aber was macht man, wenn die Krise kommt? Da muß jemand da oder ansprechbar sein. Bremen hat für solche Fälle den Notruf des Sozialpsychiatrischen Dienstes vorgesehen, doch darüber kann Klaus M. nur müde lächeln: „Das ist nur eine Nummer, und die läuft auf einem Mobiltelefon! Da rattert das Geld durch, und den Leuten an der Strippe muß man erst sein ganzes Leben erzählen. Wenn die dann überzeugt sind, daß man in die Klinik muß, dann erst kommen die!“

In den betreuten Wohngemeinschaften sei man immerhin nicht so ganz alleine. Doch nur bei Hugo R. hängt eine stets geltende Telefonliste mit den Privatnummern der BetreuerInnen an der Pinwand. „Da kann ich dann auch nachts mal zwei Stunden anrufen. Und danach ist es wieder gut.“So kennen es die anderen nicht. „Ich mit meinen Wehwehchen brauche eigentlich ständig jemand Betreuenden um mich herum“, sagt Klaus M. – in seinen Sätzen schwingt ein Kampfgeist mit. „Ich war noch nie in der Psy-chiatrie. Aber wieso werden nicht auch Psychiatrie-Erfahrene als therapeutisches Personal eingesetzt? Wir leben doch alle von Sozialhilfe. Sind wir nutzlos für diese Gesellschaft?“

Wiebke H. wirkt unruhig. „Ich möchte gern ohne Medikamente behandelt werden. Ich bin schon lange nicht mehr ich selbst“, sagt sie unvermittelt. Ihre fünf Monate junge Tochter soll jetzt in eine Pflegefamilie kommen, weil es für Mutter und Kind keine Wohnmöglichkeit gibt. „Man hat ja als sogenannte psychisch Kranke bestimmte Probleme zu haben. Und auf denen wird dann unnötig herumgeritten. Für unsere Psychiatrie-Schocks gibt es allerdings keine Therapie.“ Silvia Plahl

*Die Namen sind geändert

Der offene Arbeitskreis „Psychiatrie-Erfahrene“trifft sich wieder am 30. April von 18.30 bis 20 Uhr, Wichernhaus, Am Dobben 112, Bremen-Mitte, Info