■ Die rot-grüne Regierung hält nur zwei, drei Jahre, wenn sie nicht an Fahrt gewinnt, weil der Souverän sie an ihren Versprechen messen wird
: Aufbruch mit Samtpfoten

Der rot-grüne Koalitionsvertrag bestätigt, daß die Berliner keine andere Republik geworden ist als die Bonner. Die neue Bundesrepublik ist wie die alte ein Parteien- und Verbändestaat, dessen Kanzlerdemokratie von Interessengruppen und Koalitionspoker beherrscht ist. Niemand hat vor und nach dem 27. September ernsthaft erwarten dürfen, daß sich dieses Grundmuster deutscher Nachkriegspolitik verändern würde.

Parteien- und Koalitionsproporz haben sich durchgesetzt, die Lobby zieht mit nach Berlin um. Auch was die Festlegung rot-grüner Gemeinsamkeiten für die nächsten vier Jahre anbetrifft, konnten nur hoffnungsvolle Optimisten mehr erwarten als die Maus, die der kreißende Berg nun in Windeseile geboren hat. Am Wahlabend, so ist von Augenzeugen zu hören, seien Schröder und seine Mannen immer unfroher geworden, je deutlicher sich herausstellte, daß die sozialdemokratisch geführte Regierung nicht schwarz- rot, sondern ein Kabinett Schröder/Fischer sein würde.

Daß Schröder mit Schäuble oder Rühe regieren wollte, nicht mit den Grünen, stellen die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen unter Beweis: Trotz Schröders moderatem Modernisierungversprechen viel sozial-demokratische Tradition, trotz Fischers realpolitischem Kurs wenig grüner Aufbruch. Es gibt immer noch kein „rot-grünes Projekt“, die alten Konfliktlinien zwischen sozialdemokratischer Moderne und grüner Postmoderne sind bestehengeblieben, und im Koalitionsvertrag spiegelt sich das Machtverhältnis ungefähr im Verhältnis von 40 zu 6 (Prozent der Wählerstimmen).

Das Echo auf den dürftigen Koalitionsvertrag im Blätterwald ist geradezu absurd: Strenge Zensurengeber sehen rot-grüne Hasenfüße am Werk, aber die üblichen Verdächtigen aus den alten Industrie- und Interessenverbänden schreien vorsorglich Zeter und Mordio. Glaubt man den Funktionären der Ärzte und des Mittelstandes, der Arbeitgeber und Industriellen, steht Deutschland kurz vor dem Untergang. Was auch immer von Jost Stollmann zu erwarten gewesen wäre: Ein Quereinsteiger hätte solche Wadenbeißer besser ignorieren können.

Die Vertreter des organisierten Kapitalismus organisieren den Stillstand und repräsentieren immer weniger Teile der Gesellschaft, die sich – nolens (die Verlierer) volens (die Gewinner) – aus den Fängen des Neokorporatismus befreit haben. Mit ihnen, den Automännern, wollte es sich Schröder aber nicht verderben. Für die Zivilgesellschaft kann diese Vorsicht der Ersatz sein für die „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede, welche die erste Regierungserklärung sicher nicht sein wird: Sie muß die schmächtigen Vorgaben der neuen Regierung ausnutzen und sie mit eigenen Reformprojekten und meinetwegen auch mit Leitartikeln vor sich her zu treiben versuchen.

Morgengaben an die ungewohnt risikofreudige Wählerschaft haben die Koalitionäre nicht verteilt, und was sie sich an symbolischer, jedenfalls kostenneutraler Politik leisten wollen (Abtreibungspille, Schwulenehe, Verbot der Züchtigung von Kindern und dergleichen) lockt selbst bei Jungkonserativen nur noch ein blasiertes „Na und?“ hervor. Wichtig ist die Erfüllung dieser Programmpunkte gleichwohl. Bill Clinton hat 1992 von der versprochenen Gleichstellung der Homosexuellen sofort Abstand genommen und dann in der Gesundheitsreform sein Waterloo erlebt. Vieles fehlt: ein Einwanderungsgesetz, ein Impuls für die Hochschulreform, eine Stärkung des „dritten Sektors“, von dem die Koalitionäre offenbar noch gar nichts gehört haben. Nicht symbolisch, aber auch nicht konsequent ist die versprochene Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die einen längst bestehenden Konsens festschreibt.

Was die harten Fragen wie ökologische Steuerreform, neuer Generationenvertrag (einschließlich Bildungspolitik), Bündnis für Arbeit und Ausstieg aus der Atomenergie anbetrifft, haben jene recht, die darin höchstens einen Anfang erblicken können. Der Einstieg in den Umbau des Wohlfahrtstaats und der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft war ausgesprochen schüchtern, und der Ausstieg aus der Kernenergie ist, wie auch an der Besetzung des Wirtschaftsministeriums zu sehen, überaus zögerlich. Daraus geht hervor, daß die Regierenden noch nicht auf der Höhe jener Reformvorschläge sind, die in in der Schublade bereitliegen – man kann nur hoffen, daß sie auch in den neubesetzten Ministerien zu finden sind und wenigstens gelegentlich ans Ohr der Mächtigen dringen.

Man kann der neuen Regierung zugute halten, daß sie langsamer starten wollte, als sie auf der ersten Zielgerade ankommen und nach zwei, drei Legislaturperioden gemessen werden will. Aber diese Regierung hält nur zwei, drei Jahre, wenn sie nicht an Fahrt gewinnt. Und zwar weniger, weil die Parteibasen vielleicht aufmüpfig werden, sondern weil der Souverän sie an ihrem Versprechen messen wird, die Arbeitslosigkeit spürbar zu reduzieren und gesellschaftliche Initiativen (wie ein echtes Bündnis für Arbeit, aber auch einen neuen Generationenvertrag) zu stützen.

Gut hat die Regierung daran getan, daß auch ihre Ansätze redistributiver Politik in der Steuerreform bescheiden ausgefallen sind. Sie hat nämlich nichts zu verteilen, zumal der Rückenwind, den die neue Mitte in den USA und Großbritannien dank der guten weltwirtschaftlichen Lage verspürte, in Deutschland nicht aufkommen wird. Hier, in der innovativen Reregulierung des Weltwirtschaftssystems, liegt die größte Herausforderung für Rot-Grün und die anderen europäischen Linksregierungen. Oskar Lafontaines Vorstellungen zur Zügelung des Kasino-Kapitalismus, den die erwähnten Verbandsvertreter jetzt ungeniert verteidigen, mögen noch unausgegoren sein, aber sie zielen in die richtige Richtung. Das wird auch zu einer Veränderung der transatlantischen Beziehungen führen müssen.

Schröder und Fischer haben in Washington diplomatische Kontinuität demonstriert. Aber der begrenzte Konflikt mit den neoliberalen Verfechtern einer unvollständigen, sozial ungerechten und ökologisch ignoranten Globalisierung wird sich nicht vermeiden lassen. Und da ist es nur gut, wenn man den Mund nicht gleich am Anfang zu voll nimmt. Denn auch in diesem Konflikt sind die Machtverhältnisse ungefähr 40 zu 6, solange Europa nicht lernt, außen, wirtschafts- und sozialpolitisch mit einer Stimme zu reden. Claus Leggewie