Das Deutschenmädchen

Sie galten als Flittchen der nationalsozialistischen Besatzer. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden viele von ihnen geschoren und nackt durchs Dorf getrieben, der horizontalen Kollaboration bezichtigt. Auch Ketty aus Nordjütland in Dänemark hatte eine Beziehung mit einem deutschen Soldaten, ihr Sohn Georg nie einen Vater . Ein Report von Diana Seiler

um Glück hatte sie im Bingo gewonnen an diesem Sonntag. Zwei Flaschen Wein und ein Pfund Kaffee. Der Gewinn machte ihr gute Laune. Und die nahm ihr die Scheu, überhaupt zu kommen.

Ketty spricht nicht über ihre Vergangenheit. Nur ihr Sohn, dessen Familie und zwei alte Freundinnen wissen davon. Aus Scham? Mißtrauen? Angst? Solche Fragen stellt sie sich nicht; sie hat die alten Geschichten verdrängt.

Zögernd beantwortet sie die ersten Fragen. Wann sie ihren Georg das erste Mal gesehen habe? „Das war im Sommer 1940.“ Wo das war? „Seine Kompanie marschierte auf dem Weg zum Schießstand immer an unserem Garten vorbei. Auf dem Rückweg haben sie gewunken und Späße gemacht. Einmal hielt Georg an und wollte bei uns Eier kaufen. Da hat ihn meine Mutter zum Kaffee geladen.“

Ketty meidet Blickkontakt, die Augen verschwinden hinter dicken Brillengläsern. Hosen, eine lilatürkise Kunstfaserbluse über einem schwarzen Rolli. Ihr Sohn Georg erklärt, er habe seine Mutter in diese Klemme gebracht, denn er suchte die Öffentlichkeit. Er möchte seine Familie in Deutschland finden. „Na gut“, sagt die Fünfundsiebzigjährige dann, „ich sterbe ja sowieso bald.“ Nur, sagt sie, „nur zu Hause in Dänemark soll es nicht veröffentlicht werden.“

Nicht viel mehr als ein Meter vor Kettys Haus führt die Straße entlang. Von ihrem durchgesessenen Sofa aus könnte sie die Autodächer sehen, doch ihr Blick sucht immer wieder die Familienfotos, die im Wohnzimmerschrank aufgestellt sind. Ein Foto ist größer als die anderen, schwarzweiß, und zeigt einen attraktiven jungen Mann in Uniform.

m Sommer 1940 wurde Ketty siebzehn. Der Wehrmachtssoldat Georg war zehn Jahre älter. Ketty lebte mit ihren Eltern auf einem Bauernhof in Nordjütland. Der grenzte an einen Flughafen, auf dem Georgs Kompanie stationiert war. Die Deutschen bauten den Flughafen aus, Hunderte von Dänen, auch Kettys Vater, bauten an Rollbahnen und Bunkern mit. „Zuerst arbeiteten alle auf dem Flughafen. Es gab ja vorher keine Arbeit, weder für uns Frauen noch für die Männer. Und die Deutschen brauchten sehr viele Arbeitskräfte“, sagt Ketty.

Auch sie war bei den Deutschen angestellt; sie putzte die Zimmer der Offiziere. Meist besuchte Georg sie nach dem Dienst zu Hause; ihre Eltern hatten nichts dagegen. Oder sie trafen sich nachts auf dem angrenzenden Flughafengelände. Heute wird dieser Teil des Flughafens nicht mehr genutzt. Durch einen Zaun kann man die alten Rollbahnen erspähen – Schlaglöcher, das ein oder andere verrostete Panzerkreuz im hohen Gras am Rande, verfallene Hanger.

Da, wo das Grundstück von Kettys Eltern an den Flughafen grenzte, hatten die Verliebten ein Loch in den Zaun gerissen. „Es war ja selten, daß hier eine Wache war. Und dann bin ich hier immer durch den Zaun durch“, sagt Ketty. Seit über vierzig Jahren ist sie nicht mehr hier gewesen. Heute steht ein neuer Zaun an derselben Stelle; das Grundstück gehört anderen Leuten – Kettys Eltern hatten den Bauernhof 1958 verkauft. Zwei sich kreuzende Straßen, hinter den Häusern Felder, der Wind zerrt an Kettys Perücke – ihr Heimatdorf.

Sohn Georg ist mitgekommen auf den Ausflug in die Vergangenheit. „Meine Heimat“, sagt er vor dem ehemaligen Haus seiner Großeltern. Er kennt die Menschen nicht, die heute hier wohnen. Seine blauen Augen glänzen, wegen des Windes oder der Erinnerung ist nicht klar. Er hat ein freundliches Gesicht, kaum Falten, lächelt oft. Ein junges Gesicht unter einer breiten Glatze. Für einen Lastwagenfahrer scheint er nicht besonders muskulös. Heizungsrohre und Öfen sind seine Fracht, doch weil Heizungsanlagen hauptsächlich im Sommer repariert werden, wird er jeden Winter entlassen.

Georg fährt weiter, etwa einen Kilomete – immer geradeaus. Plötzlich stoppt er den Wagen, vor einem alleinstehenden Holzhaus: acht Fenster breit, zwei Fenster hoch. „Meine Schule“, sagt Georg. Er lächelt nicht mehr. „An die Schule hier habe ich keine gute Erinnerung. Der Lehrer war dänischer Widerstandskämpfer, und er mochte die Deutschen nicht leiden. Ich war immer der dumme deutsche Junge, und der Lehrer hat nie meine Schularbeiten abgehört. Ich mußte immer in der letzten Reihe sitzen und den Ofen heizen. Wenn irgend was passiert war, dann bekam ich immer die Schuld.“

Georg möchte unbedingt noch zu der Kirche fahren, die ein Dorf weiter steht. Der damalige Pfarrer übernahm in Georgs letztem Schulhalbjahr den Unterricht. Er hatte mitbekommen, daß der „Deutschenjunge“ wegen seines Nachnamens überall Nachteile hatte. Er schlug ihm vor, diesen Namen löschen zu lassen. Georg trägt seitdem den Namen seiner Mutter.

e länger die Fahrt über die Dörfer dauert, desto mehr erzählt Ketty. Davon, daß am Anfang die Nachbarn nichts dazu gesagt hatten, daß sie mit einem deutschen Soldaten zusammen war. Davon, daß es plötzlich schändlich war, für die Deutschen zu arbeiten oder gar ein Liebesverhältnis mit einem Soldaten zu haben, als das Kriegsglück sich gewendet hatte. Davon, daß sie von den Nachbarn hier im Dorf geschnitten wurde, daß sie sich nicht mehr zum Kaufmann traute. Und davon, daß ihre Eltern zu ihr hielten. Was nicht selbstverständlich war. Ketty erzählt von einem Mädchen aus der Nachbarschaft, das auch mit einem Deutschen liiert war und sich in der Toilette erhängte, weil ihre Eltern sie ausgestoßen hatten. Ab und zu bringt sie eine Jahreszahl oder einen Namen durcheinander. Sohn Georg korrigiert sie unauffällig.

Ketty wurde schwanger. Als sie im Februar 1943 Sohn Günter Georg zur Welt brachte, war Vater Georg schon zwei Monate nach Norwegen versetzt. Zwei Jahre später – auf dem Rückweg nach Deutschland – besuchte er seine Familie für anderthalb Stunden. Es war das einzige Mal, daß er seinen Sohn sah. Wie war das Gefühl? Ketty erinnert sich nicht. Sie weiß nur noch, daß alle herumrannten, um Lebensmittel zusammenzubringen, die Georg für seine Familie mit nach Deutschland nehmen sollte.

Nach Kriegsende rächte sich für viele „Deutschenmädchen“ ihre Liebe zum Feind. Auch in Kettys Heimatort. Eine Freundin war dabei. Ketty sagt: „Das war sehr schlimm. Die wurden geschoren und ausgezogen und ohne Kleidung nach Hause geschickt. Ihnen wurden Hakenkreuze auf den Rücken gemalt. Deshalb bin ich nach Fredericia geflüchtet.“ Aus Furcht vor der Rache in die größere Stadt, in der niemand sie kannte.

Günter Georg blieb bei den Großeltern auf dem Land. Fünf Jahre später kam seine Mutter zurück. Für den Sohn war sie jetzt wie eine große Schwester. „Ich habe mich immer anders gefühlt als andere Kinder. Ich habe gemerkt, wie ihre Eltern abweisend auf mich reagierten. Als ich ungefähr acht Jahre alt war, da fragte ich meine Großmutter, warum ich zu meinem Großvater ,Vater‘ sage. Sie fing an zu weinen und lief raus. Danach habe ich nie wieder gefragt“, sagt Georg. Später erzählte ihm die Großmutter, daß er einen deutschen Vater hat. Doch sie konnte Günter Georg nicht helfen, nicht gegen die Nachbarn und auch nicht gegen den Lehrer. Er blieb der „Deutschenjunge“. Schließlich zog die Familie in die Stadt. Mit fünfzehn legte Günter Georg seinen ersten, auffällig deutschen Vornamen Günter ab. Als er 25 war, gab ihm Ketty Fotos und Briefe seines Vaters.

r begann, den unbekannten Mann zu suchen. Er fuhr nach Deutschland. Mehrmals. Die Behörden halfen ihm nicht. Begründung: Datenschutz. Als der Sohn den Vater im vergangenen Jahr schließlich ausfindig machte, war es zu spät: Er war 1990 gestorben. „Ich habe mich immer gefühlt wie ein halber Mensch. Ich habe meinen Vater vermißt und ihn während vieler Jahre gesucht. 1982 war ich ganz in der Nähe, wo er gewohnt hat. Ich habe ihn aber nicht gefunden. Als ich ihn jetzt endlich fand, war ich eigentlich ganz froh, aber auch traurig, weil er nicht mehr lebte“, sagt Georg. Nun will er seine Halbgeschwister finden.

Ketty hat sich irgendwann damit abgefunden, nichts mehr vom Vater ihres Sohnes zu hören. Sie sucht nicht nach deutschen Verwandten. Aber dann sagt sie: „Das war meine große Liebe, das ist sie immer noch. Und ich glaube, sie war gegenseitig. Deshalb gab es keinen, der ihn ersetzen konnte.“

Diana Seiler, 33, freie Fernsehjournalistin aus Frankfurt am Main, ist auf Sozialreportagen spezialisiert