Kohl in Bestform ohne Kanzlermalus

■ Lauwarmer Rosenkohlsalat und die folgenreichen Tränen des König Lykurgos

Wer isst jetzt noch Kohl?“ Im Mai 1986, wenige Tage nach Tschernobyl, flatterte dieses Plakat am Berliner Fraenkelufer und signalisierte die politische Aufladung eines Gemüses, das jahrelang mit der Namensgleichheit des Bundeskanzlers zu kämpfen hatte. Dazu kam der ohnehin miserable Ruf als undelikater Stinker. Noch heute warnt der Ratgeber für Kaninchenhaltung: „Mit Kohlsorten sollte sparsam umgegangen werden.“ Internet-Ernährungsexpertin Frau Dr. Seib sieht auch den Menschen als Opfer von Völlegefühl und Flatulenz. Sie rät: „Kohl durch andere Gemüse ersetzen!“ - die Diskriminierung einer ganzen Pflanzengattung.

Blähungen hin, Fürze her: Kohl hat einen hohen Gehalt an Vitaminen, Mineralstoffen, gilt sogar als krebsvorbeugend. Vor allem ist er ein zwar rustikaler, aber authentischer Geschmacksknaller, der noch nicht dem erdfreien Anbau zum Opfer gefallen ist. Zudem gehört Kohl zu den wenigen Nahrungsmitteln, deren Herkunft geklärt ist. Königssohn Lykurgos zankte sich mit Dionysos, worauf dieser ihn zerreißen ließ. Aus den Tränen des Lykurgos sprossen die ersten Pflanzen.

Kohl ist abwechslungsreich. Das wollen wir mit drei Rezepten beweisen. Es muss nicht immer Sauerkraut und gedämpfter Blumenkohl sein. Der erste Vorschlag macht Arbeit, wird aber durch äußersten Wohlgeschmack belohnt: Lauwarmer Rosenkohlsalat! Die einzelnen Blätter vom Rosenkohl (250 Gramm) abzupfen, das dauert. Die Blätterpracht dann in Öl fünf Minuten nicht zu heiß braten und immer mal wieder wenden, bis sie leicht Farbe annimmt. Ab in die Salatschüssel! Ein gutes Schüsschen Balsamico mit etwas Honig auf die Flamme setzen, leicht einköcheln und über den Rosenkohl geben, dazu zwei Esslöffel bestes Olivenöl, Pfeffer und Salz. Schmeckt sehr nussig und kräftig.

Geschmorter Blumenkohl ist eine andere ungewöhnliche Variante. Andre Köthe, Chefkoch des „Essigbrätlein“ in Nürnberg, zerschneidet die Röschen wie beim Kartoffelgratin in Scheiben, die er dachziegelartig schichtet, mit Sahne übergießt und mit Salz, Pfeffer, Muskat und Zimt würzt. Zwanzig Minuten im Ofen garen! Den Blumenkohl serviert er zusammen mit Pecannüssen, die er in Butter anbrät und mit Orangensaft (!) ablöscht. Der Saft wird eingeköchelt, bis die Nüsse glaciert sind.

Am Ende ein Klassiker im modernen Gewand, erdacht von Michaela Pfeiffer (Essen & Trinken): Kohlrouladen. Das Hackfleisch mit Knofel, Zwiebel (beides vorab in Butter angelassen), dem milcheingeweichten Brötchen, nebst reichlich Kapern, Sardellen und Petersilie durch den Wolf drehen. Dann mit Ei, Zitronenschale, Salz, Pfeffer und Muskat gemixt, mit den abgekochten Kohlblättern zu Paketen geschnürt, angebraten, mit Gemüsefond abgelöscht und im Ofen eine Stunde bei 180 Grad geschmort. Dazu Kartoffeln und eine Speck-Kapern-Bechamel. Manfred Kriener