Eine Nation wird zu Rechtsanwälten

Das Amtsenthebungsverfahren gegen den philippinischen Präsidenten Joseph Estrada zieht die Nation in ihren Bann und die Wirtschaft in die Krise. Doch auch ein Freispruch durch den Senat dürfte das zerstörte Vertrauen kaum wieder herstellen

Aus Manila HUGH WILLIAMSON

Der Taxifahrer in Manilas Vorort Quezon City hebt jubelnd den Daumen, als er im Autoradio von den neuesten schwerwiegenden Beweise gegen Präsident Joseph Estrada hört. „Dieser Mann ist so korrupt, der muss gehen“, sagt der Fahrer mittleren Alters und dreht das Radio lauter, das live aus dem Verfahren berichtet. Wie viele andere Filipinos ist der Taxifahrer überzeugt, dass Estrada in allen vier Punkten schuldig ist: Bestechung, Korruption, Bruch der Verfassung und des Vertrauens. „Doch trotz der starken Beweise könnte er von den Senatoren freigesprochen werden“, sagt der Fahrer bedrückt.

Einen Monat nach Beginn des Amtsenthebungsverfahrens sind sich die Beobachter einig, dass die Ankläger die Oberhand haben. Zeugen von Sekretären bis hin zu einem Provinzgouverneur sagten aus, wie Estrada 400 Millionen Peso Schutzgelder (16 Millionen Mark) meist in bar von illegalen Glückspielsyndikaten kassierte. Bankangestellte beschrieben ein System geheimer Konten, auf denen der Präsident unter dem Namen „Jose Velarde“ über 500 Millionen Peso an unerklärtem Vermögen versteckte.

Die Mehrheitsverhältnisse im 22-köpfigen Senat, der mit 15 Stimmen der Amtsenthebung zustimmen muss, sind noch offen. Zehn Senatoren gehören zur Opposition, fünf unterstützen Estrada noch und sieben sind Unabhängige. Die Beweise müssten noch erdrückender sein, damit die Unterstützer des Präsidenten im Senat von ihm abrücken, meint Zeitungskommentatorin und Exministerin Solita Monsod. Erst dann würde Estrada von der oppositionellen Vizepräsidentin Gloria Macapagal Arroyo ersetzt. „Man muss schon taub, stumm und blind sein, um die Beweise zu ignorieren. Aber es ist ein politisches Verfahren, eine wirkliche Schlacht, bei der jede Seite versucht, die andere zu schlagen“, sagt Monsod.

Obwohl Argumente über technische Details das Verfahren oft öde machen, zieht es die Nation in den Bann. Alle Fernsehsender warfen ihre Programme samt beliebter Soap Operas über den Haufen, um die täglichen fünf bis sechs Stunden des Verfahrens live zu berichten. „Filipinos haben selten eine Gelegenheit ihren Senatoren bei der Arbeit zuzusehen, so dass sich wohl bei künftigen Wahlen die Qualität der Senatoren erhöht“, sagt der Direktor des Instituts für populäre Demokratie, Joel Rocamora. Die Zeitungen und Phone-in-Radiosendungen beschäftigen sich mit jeder Zeugenaussage, die auch viele Gespräche dominieren. Jason, der in Manilas Geschäftsviertel in einem Restaurant arbeitet, sagt: „Viele meiner Freunde bleiben zu Hause, um das Verfahren im Fernsehen anzuschauen.“ Das Land „verwandelt sich in eine Nation von Rechtsanwälten“, sagt Jing Magsaysay, Nachrichtenchef des 24-Stunden-Nachrichtensenders ANC. „Unsere Einschaltquoten sind stark gestiegen.“

Es sind auch bereits Symbole entstanden wie im Amtsenthebungsverfahren gegen Bill Clinton das blaue Kleid von Monica Lewinsky. Bei Estrada ist es eine Tasche, mit der Bargeld zum Präsidentenpalast getragen worden sein soll, Bankformulare auf den Namen „Jose Velarde“ und zahlreiche Luxuswohnungen für Estradas viele Mätressen.

Juristen und Politiker freuen sich über das große Interesse am Verfahren, doch gibt es auch warnende Stimmen. „Die Gefahr ist, dass das Verfahren nur als Ersatz für Basketballübertragungen dienen könnte“, sagt Juraprofessor Raul Pagalangan.

Fast täglich wird für und gegen Estrada demonstriert. Der Präsident behauptet weiter die Unterstützung der Unterschichten zu haben, die seine Basis sind und bei denen er wegen seiner früheren Rolle als Filmschauspieler beliebt ist. Doch laut Umfragen schwindet auch dort die Unterstützung. Ein Grund hierfür ist die Arbeitslosigkeit, die mit anhaltender politischer Krise wächst. Ein seit über 20 Jahren im Land lebender deutscher Geschäftsmann sagt, „die Situation ist noch nie so trostlos gewesen. Der Präsident kann das Vertrauen der Wirtschaft nicht mehr zurückgewinnen, selbst wenn er freigesprochen wird.“

Das sieht auch auch Dinky Soliman so, die Sprecherin einer Anti-Estrada-Koalition von Bürgergruppen: „Wir befürchten bei einem Freispruch den Zusammenbruch von Firmen, Anarchie auf den Straßen und ein Eingreifen des Militärs.“ Oppositionelle argwöhnen, die Bombenanschläge vom 30. Dezember mit 22 Toten könnten der Auftakt einer Militärintervention gewesen sein. Estrada verneint dies und beharrt darauf, dass er in einigen Wochen freigesprochen wird.