Zynische „Gnade“

Das verharmlosend „Euthanasie“ (griechisch: „leichter, schöner Tod“) genannte Mordprogramm der Nazis an Behinderten und psychisch Kranken kostete von 1939 bis 1945 schätzungsweise 200.000 Menschen das Leben. Offiziell begann es mit einem formlosen Schreiben Adolf Hitlers auf privatem Briefpapier vom Oktober 1939, zurückdatiert auf den 1. September, in dem dieser anordnete, „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann“.

Patienten psychiatrischer Einrichtungen wurden mittels Meldebögen systematisch erfasst. Getreu der Nazi-Rassenideologie galten sie als „lebensunwertes Leben“, das ausgemerzt werden müsse. Die Meldebögen gingen an ausgewählte Gutachterärzte, die über Leben und Tod der Patienten urteilten. In den ab 1940 eingerichteten Vergasungsanstalten Grafeneck bei Stuttgart, Brandenburg bei Berlin, Hartheim bei Linz (Österreich), Pirna-Sonnenstein bei Dresden, Bernburg bei Magdeburg und Hadamar bei Frankfurt am Main wurden die Kranken mit Kohlenmonoxid-Gas ermordet.

Für Planung und Ausführung der Massenmorde gründeten die Nazis vier Tarnorganisationen: die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, die „Gemeinnützige Krankentransport-GmbH“, die „Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege“ und die „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“. Nach dem Sitz der „Euthanasie“-Verwaltungszentrale in der Berliner Tiergartenstraße 4 hieß die Aktion „T 4“. Schätzungsweise achtzigtausend Behinderte fielen ihr zum Opfer.

Auf mündlichen Befehl Hitlers stellten die Nazis die Vergasungen am 24. August 1941 ein. Beendet war das „Euthanasie“-Programm dennoch nicht. Bis Kriegsende wurde direkt in den psychiatrischen Krankenhäusern unter anderem mit überdosierten Medikamenten weiter getötet. Körperlich oder geistig behinderte Kinder mussten seit 1939 an den „Reichsausschuss zur wirtschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ gemeldet werden. Anschließend kamen die Kinder in spezielle „Kinderfachabteilungen“, in denen sie fast immer durch Medikamente oder an Hunger starben. Deutschlandweit gab es etwa dreißig solcher Abteilungen.

Auf Drängen von NS-Medizinern arbeiteten die Nazis ab 1940 an einem „Euthanasiegesetz“. Die Ärzte plädierten unter anderem für eine generelle gesetzliche Meldepflicht für bestimmte Kranke und ein Verbot lebensverlängernder Maßnahmen bei körperlich erkrankten „unheilbar geistig Siechen“. Das Gesetz kam nie zustande.

In der DDR erhielten „Euthanasie“-Opfer und deren Angehörige niemals den offiziellen Status „Opfer des Faschismus“. Sie blieben damit von finanzieller Entschädigung ausgeschlossen. Ähnlich erging es auch anderen Leidtragenden der NS-“Rassenhygiene“; Zwangssterilisierte wurden 1953 aus der offiziellen Opferliste wieder herausgestrichen. Dazu kam das organisierte Vergessen. Das Thema „Euthanasie“ stand in keinem Geschichtsbuch der DDR. Die „Euthanasie“-Gedenkstätte Bernburg bei Halle etwa, die noch im September 1989 eröffnet wurde, entstand nicht, weil SED-Funktionäre es so wollten, sondern weil sich Mitarbeiter des psychiatrischen Krankenhauses Bernburg ehrenamtlich bemüht hatten.

KATRIN ZEISS