taz-serie: kippt der osten?
: BÄRBEL GRYGIER zu den Thierse-Thesen

„Die Grenze verläuft zwischen oben und unten“

Der Osten steht „auf der Kippe“: Mit diesem Satz hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) bundesweit eine erregte Debatte ausgelöst. In Berlin blieb es bislang merkwürdig still. Sind in der Region bereits alle Probleme gelöst? Oder werden sie von der Politik nur ignoriert? In der taz antworten Prominente aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Heute: Bärbel Grygier. Sie ist für die PDS Bezirksbürgermeisterin in Friedrichshain-Kreuzberg.

Die Fakten, mit denen Wolfgang Thierse seine „fünf Thesen“ belegt, sind wohl größtenteils unbestreitbar.

Eine Bestandsaufnahme, wie ich sie derzeit für den Fusionsbezirk Friedrichshain-Kreuzberg anstelle, da bin ich sicher, wird vorbehaltlos zu der Feststellung gelangen, dass es mitten in Berlin strukturschwache Kieze, Viertel oder Gegenden gibt, die sich nicht unbedingt nach dem Schema Ost (= schwach)/West (= stark) in Schubladen packen lassen. Die täglichen Probleme der Menschen sind sich hier beiderseits der Spree viel ähnlicher, als Wolfgang Thierse vielleicht zu sehen vermag. Macht er sich doch eindeutig zum Fürsprecher „ostdeutscher“ Interessen, einer „ostdeutschen Mitte“ – auf der Suche nach dem klassischen SPD-Wähler. Seinen Gegenpart spielte bereits jüngst Eberhard Diepgen mit der Forderung, zehn Jahre Aufbau Ost seien genug, nun müsse den Westbezirken wieder einmal verstärkt unter die Arme gegriffen werden, und schielte entsprechend wohl auf die CDU-Klientel.

Beiden Positionen – hie West, da Ost – ist gemeinsam, alte Gräben tiefer zu buddeln, Regional- und Parteiinteressen über das Gesamtwohl zu stellen. Wie alt, wie wahr ist eigentlich der Spruch von der „Mauer in den Köpfen“? Und um welche Köpfe mag es sich handeln? Solche und ähnliche Fragen tauchen sofort auf. Vielleicht ist deshalb die Reaktion auf Thierses Vorstoß so verhalten. Allerdings hat er Recht mit seiner Forderung, „gesellschaftliche Interessen“ ohne Nostalgie in den Mittelpunkt der Politik zu stellen. Da werden sich die jeweiligen Gruppen, die Arbeitslosen aus Friedrichshain und Kreuzberg, die Alten und Kranken, benachteiligte Jugendliche und Nichtdeutsche über alte und neue Bezirks-, Landes- oder gar Staatsgrenzen hinweg ganz schnell finden.

Strukturschwäche oder die Ballung objektiver Probleme und Benachteiligungen prägen sich regional aus. Hier hat Kommunalpolitik anzusetzen – besonders in einem Bezirk, der aus „Ost- und Westteil“ besteht.

„Ostdeutschland“ in dieser Diskussion als eigene Region „dem Westen“ gegenüberzustellen, läuft allerdings Gefahr, alte Zöpfe nur neu zu flechten. Thierse hätte in diesem Dilemma einfach mehr auf die alte Weisheit abheben sollen, wie sie ein zehn Jahre altes Graffito an einer Brandwand an der „Grenze“ zwischen Kreuzberg und Mitte etwa so formuliert: „Die Grenze verläuft nicht zwischen Osten und Westen, sondern zwischen oben und unten.“

Soziale Schieflagen muss der Sozialstaat auszugleichen bemüht sein. Dass die soziale Lage in vielen Gebieten „Ostdeutschlands“ – in Thierses Worten – „auf der Kippe“ steht, muss man sehen – aber auch, dass es diversen Regionen des einstigen „Westens“ ebenso geht. Die Lage Berlins – im doppelten Sinn – sollte aber den Blick dafür schärfen, dass wir uns vom überkommenen Denken in nur zwei Himmelsrichtungen freimachen müssen. Thierse ist zu danken, dass er seine Auffassung so deutlich ausgesprochen hat. Aber wir sollten soziale Benachteiligung in den verschiedenen Regionen als solche bekämpfen und, ohne in das alte „Ost-West-Schema“ zu verfallen, die jahrzehntelange Teilung Deutschlands und die fehlgeschlagenen Bemühungen der vormaligen Kohl-Regierung, sie zu überwinden, als Ursachen hierfür benennen. Die SPD allein wird das Problem sicher nicht lösen können.