Bauboom mit einem hohen Preis

Während Indiens Paläste und Türme von einst dem Erdbeben vielfach trotzten, fielen die in den vergangenen Jahren schnell hochgezogenen Neubauten in sich zusammen. Grund dafür ist vor allem die systematische Verletzung von Baunormen

aus Ahmedabad BERNHARD IMHASLY

Vom Dach des „Collector's Bungalow“ regnet es Ziegel. Doch es sind keine Nachbeben, die den Bungalow des obersten Administrators der Stadt Ahmedabad erschüttern. „Da wird nur eine längst geplante Neubedachung vorbereitet“, meint der „Additional Collector“ Manorama Bhagat, dessen Titel ebenso wie das Haus aus der Kolonialzeit stammt. Es steht mitten in der Altstadt der Hauptstadt Gujerats, die bei dem Erdbeben vom 26. Januar kaum Schaden genommen hat. Nur eine Touristenattraktion, die „schwankenden Minarette“, zeigen Risse, obwohl sie sonst auch ohne Erdstöße in Bewegung geraten.

Ein alter Festungsturm, ausgerechnet dort, wo der „Archaeological Survey of India“ seine Büros hat, ist ebenfalls eingestürzt. Doch sonst zeigen die alten Tempel und die berühmten Tiefbrunnen kaum Schäden. Es waren vielmehr die modernen Büro- und Wohnblocks, die in den letzten Jahren ins Kraut geschossen sind, bei denen die Zahl der Einstürze am höchsten ist. Für den bekanntesten Architekten der Stadt, den Aga Khan-Preisträger Balkrishna Doshi, ist dies das Resultat der systematischen Verletzung von Baunormen sowie der ungenügenden Bodenuntersuchungen vor Baubeginn. „Wie überall in Indien haben wir strenge Gesetze, aber wir haben auch schnelles Geld, das weiß, wie man sich darüber hinwegsetzt.“

Doshi erinnert an eine heftige Auseinandersetzung, die erst einige Monate zurückliegt, und bei der die Häusermakler und das lokale Gericht aneinander gerieten. Das Gericht hatte zunächst in mehreren hundert Häusern den Strom abstellen lassen, da diese keine Bauabschluss-Lizenzen besaßen. Darauf gab es Proteste der Bewohner, welche die Schuld den Unternehmern in die Schuhe schoben. Als das Gericht diesen darauf saftige Strafen aufbrummte, bearbeitete die politisch gut verknüpfte Lobby die Gemeindepolitiker so lange, bis diese drauf und dran waren, die Strafe in eine symbolische Buße umzuwandeln.

Kurz vor der Entscheidung schuf das Erdbeben Klarheit: Während der Bazar und 30 Jahre alte Hochhäuser mit Sprüngen und Rissen davonkamen, fielen reihenweise Immobilien in sich zusammen, die im Wirtschaftsboom der vergangenen 10 Jahre hochgezogen worden waren. „Eine Untersuchung wird wahrscheinlich feststellen“, meint Doshi, „dass weder der Baustil oder die Höhe noch der Standort das wichtigste Einsturz-Indiz ist, sondern die Schnelligkeit, mit der Baubewilligungen beschafft und die Wohnungen gebaut worden sind“.

Für das am stärksten betroffene Gebiet im Nordwesten von Gujerat gelten diese Erklärungen allerdings nicht. Hier waren es die Stärke des Bebens sowie Bauweise und Baumaterialien, welche den Schaden zur Katastrophe werden ließen. Auch hier wirkten aber vermutlich ökonomische Prozesse. Die Kleinstädte der Kutch-Region, die völlig zerstört wurden, sind auch die Orte, wo ein bescheidener Wohlstand, gefördert durch Geldüberweisungen ausgewanderter „Kutchis“, zur Abkehr von traditionellen Bauweisen geführt hat.

Statt Lehmhütten bauten die Familien Häuser aus Ziegeln, Steinen und Zement. Das Geld und die Technik für Stahlbeton fehlten aber. Das Urteil eines deutschen Rettungshelfers: „Zwischen Eisenträger wurden Ziegel hineingepflastert, ohne tragende Teile, und als das Erdbeben kam, wurden diese Materialien zertrümmert und es gab keine Hohlräume, wie sie Platten oder Betonbalken sonst bieten.“ Und so waren es wieder einmal die Ärmsten, die in ihren Lehm- und Staudenhütten zumindest mit dem Leben davonkamen. Doch die Zerstörung der Wirtschaft einer ganzen Region bedeutet für Millionen von ihnen, dass mit dem Verlust an Arbeitsmöglichkeiten ihr Überleben noch schwieriger geworden ist.