C’est la libération

Sechs Frauen und der sechste Juni 1944

Die Befreite

Auf dem Rückweg aus der Nähstube kommt Paulette Merly an zwei Wehrmachtssoldaten mit geschulterten Gewehren vorbei. Die abendliche Patrouille in dem normannischen Dorf Hermanville. Die 19-Jährige sagt „Bonjour“ ohne hinzugucken. Beschleunigt ihre Schritte. Und überquert die kleine Dorfstraße vor dem giebeligen Fachwerkhaus. Bei Beginn der Ausgangssperre sitzt sie mit Vater und Mutter hinter vorschriftsmäßig verdunkelten Fenstern am Küchentisch. Vor dem Zubettgehen rücken die drei ganz nah an den Weltempfänger heran und hören Radio Londres. Über ihrem Fachwerkhaus rumoren britische Bomber, die landeinwärts fliegen. Im Radio berichtet die Stimme der Résistance von Kämpfen an der europäischen Ostfront und von Sabotageakten gegen Eisenbahnstrecken. Ein ganz normaler Abend im besetzten Frankreich.

Doch am nächsten Morgen wird in den Feldern hinter dem Fachwerkhaus zum ersten Mal geschossen. Die Tochter geht nicht zu ihrer Lehrstelle. Der Vater nicht in die Schmiede. Die Mutter nicht in das von den Deutschen beschlagnahmte Grand Hotel, in dem sie putzt. Familie Merly flüchtet unter einen Tisch in einem fensterlosen Winkel des Hauses. Unzählige Male beten die drei das Vater Unser. Plötzlich wird es draußen still. Es klopft. An der Tür fragt ein englischer Soldat, ob die Merlys ihm Wasser kochen können. Tee hat er dabei.

Am Vormittag dieses Dienstags, den 6. Juni 1944, ist in Hermanville der Krieg vorbei. Vor dem Haus hocken Soldaten am Boden. Manche heben die Finger zum Victory-Zeichen. Paulette Merly hat diese Geste noch nie gesehen. Sie spricht kein Wort Englisch. Aber sie weiß sofort: „C’est la libération“ – das ist die Befreiung. Die vier bedrückendsten Jahre ihres Lebens sind vorbei.

Die Befreier sind bei stürmischer See gekommen. Im Morgengrauen landen 156.000 Soldaten aus den USA, Großbritannien, Kanada und anderen alliierten Ländern an den Stränden der Normandie. 9.470 von ihnen fallen schon am ersten Tag der bis dato größten Militäroperation zur See. Die Überlebenden haben keine Ahnung, wo sie sind. Auf ihren Karten ist die normannische Küste in sechs Abschnitte eingeteilt, die englische Code-Namen tragen. Hermanville liegt im Sektor „Sword Beach“, im äußersten Osten des Operationsgebiets. Für ihn sind die Briten zuständig.

Das Fachwerkhaus der Merlys steht in Hermanville in der hinteren Reihe. Die Häuser direkt am Strand sind größer und höher. Sie gehören reichen Parisern, die vor dem Krieg als Sommergäste kamen. Seit dem Waffenstillstand im Juni 1940 hat die Wehrmacht diese Villen beschlagnahmt. In die größte ist die „Kommandantur“ eingezogen. Aus dieser ersten Häuserfront werden im Morgengrauen des „Jour-J“ viele Soldaten erschossen, bevor sie überhaupt einen Fuß an Land setzen können. Doch das kann Paulette Merly nicht sehen. Sie hat den Strand ihres Dorfes seit vier Jahren nicht mehr betreten. Die Deutschen haben Stacheldraht davor gespannt. Auf den Sand haben sie Bunker gebaut. „Atlantikwall“ heißen die Betonklötze, die die französische Küste bis zur spanische Grenze gegen eine „Invasion“ aus dem Meer sichern sollen. Zusätzlich haben die Deutschen meterhohe Betonstäbe ins Wattenmeer gepflanzt. Nach dem Feldmarschall werden sie „Rommel-Spargel“ genannt.

Die deutsche Bautätigkeit und die Flugblätter aus der Luft, in denen die Engländer die Küstenbewohner der Normandie aufgefordert haben, ihre Orte zu verlassen, hätten die achthundert Einwohner von Hermanville vorwarnen können. Doch sie sind völlig von der Landung überrascht. Sie haben so lange vergeblich auf ein alliiertes Eingreifen gewartet, dass sie nicht mehr daran glauben. Sie haben sich daran gewöhnt, dass die Deutschen das beste Fleisch und das beste Gemüse bekommen. Und dass ihre Butter von deutschen Soldaten „in die Heimat“ geschickt wird.

Die Schulkinder von Hermanville nennen die Deutschen doryphores. Nach den Kartoffelkäfern, die Blätter, Blüten und Knospen der Pflanzen fressen und so gräulich schimmern wie die Wehrmachtsuniformen. Die Erwachsenen in Hermanville teilen sich in zwei Gruppen: Petainisten und Gaullisten. Über Politik reden sie nicht. Aber alle wissen, wer wie denkt. Die ersten folgen Staatschef Marschall Pétain, der mit den Deutschen kollaboriert, um „Schlimmeres“ zu vermeiden. Als „Schlimmeres“ gelten unter anderem die Bolschewiken. Die Merlys gehören zur zweiten Gruppe. Sie sind Gaullisten. Sie leisten keinen Widerstand, halten aber strikten Abstand zu den Deutschen und hoffen, dass sie irgendwann verschwinden. Mit den Deutschen sprechen sie nur, wenn es gar nicht anders geht.

Die Weihnachtsnacht 1940 war so ein Fall. Da war Vater Merly noch in Kriegsgefangenschaft in Stettin, und deutsche Soldaten klopften in der Nacht an das Schlafzimmerfenster der beiden Frauen. Mutter Merly griff zu einem Spazierstock und zog den Jungen eins über den Schädel. Am nächsten Tag beschwerte sie sich bei der Kommandantur: „Deutsche Soldaten, schlechtes Benehmen.“

„So wie wir dachten damals achtzig Prozent der Franzosen“, ist die 79-jährige Schneiderin überzeugt. Sie hat nur ein Bedauern bezüglich jener Zeit. „Ich war zu passiv“, sagt sie. Seit ihrer Hochzeit vor mehr als fünf Jahrzehnten heißt Paulette mit Nachnamen Perdriel. Sie wohnt immer noch in derselben Straße. Der ereignisreichste Tag ihres Lebens steht ihr täglich vor Augen. Über ihrem Wohnzimmersofa hängt ein Gemälde, das Hermanville am Jour-J zeigt. In der weiten Bucht ist der Hafen aus Metall zu sehen. Bis zum Horizont verdecken Schiffe das Meer. Darüber schweben graue Ballons zur Luftabwehr.

Es ist ein fröhliches Bild in bunten Farben. Nichts deutet darauf hin, dass in den Wochen nach dem Jour-J zigtausende Menschen bei den Schlachten in der Normandie sterben. Allein in der Industriestadt Caen, nur dreizehn Kilometer von Hermanville entfernt, kommen fünftausend Zivilisten um. Als die Alliierten die Stadt vier Wochen nach der Landung einnehmen, ist sie restlos zerstört. In Hermanville sind zu dem Zeitpunkt bereits die ersten Familienbilder mit britischen Soldaten entstanden.

Nach dem Jour-J sind einige von ihnen an den Esstisch im Fachwerkhaus der Merlys geladen worden. Es gibt Kaninchen aus dem Garten. Und Schokolade aus England. Manchmal näht die Tochter Orden und abgerissene Knöpfe an britische Uniformen. Mit einzelnen Soldatenfamilien hält Paulette Perdriel bis heute Kontakt. Sie ist immer noch froh, dass ihr Dorf von den Engländern befreit wurde, nicht von den Amerikanern. „Die Engländer sind freiwillig gegangen“, sagt sie, „die Amerikaner wären geblieben, wenn General de Gaulle sie nicht aufgefordert hätte zu gehen.“

Zum sechzigsten Jahrestag organisiert die Normandie, die alljährlich von 1,5 Millionen Weltkriegstouristen besucht wird, eine neue große Zeremonie. Erstmals darf daran auch ein deutscher Regierungschef teilnehmen. Paulette Perdriel findet das in Ordnung. Sie wird den Tag in Hermanville mit Besuchern aus England begehen. Seit Wochen bastelt sie kleine Kästchen aus Pappe. In jedes kommt ein Holzkreuz und eine Klatschmohnblüte aus Stoff. 1.015 Kästchen sind nötig. Eines für jedes Grab auf dem britischen Soldatenfriedhof von Hermanville. DOROTHEA HAHN

Die Tänzerin

Vera Tschernyschowa ist ein Energiebündel, auch mit 78 Jahren. Sie sei immer die Jüngste gewesen, ob an der Front oder im Veteranenkreis, sagt sie kokett. Vera war weder Soldatin noch Partisanin – aber, wie sie findet, auch keine ganz normale Zivilistin. Mit fünfzehn Jahren schlich das Mädchen aus einer Munitionsfabrik in Tula davon, folgte der Front und arbeitete als Krankenschwester in Feldlazaretten. Dass sie leidenschaftlich gerne sang und tanzte, blieb auch unter harten Frontbedingungen niemandem verborgen. Bald trat sie nebenbei mit einem Jazzensemble überall auf, wo es Siege zu feiern gab. Fünf, sechs Konzerte manchmal an einem Tag. Den 6. Juni 1944 hat die 17-Jährige in der Nähe von Mogilowo verbracht. Auf den Tag genau erinnert sie sich nicht mehr daran, denn die Nachricht von der Landung in der Normandie erreichte Russland mit Verspätung. Vera erfuhr von ihr aus der Frontzeitung Strelka – Pfeil. Offiziell wurde die Eröffnung der zweiten Front erst nach Tagen auf einer Versammlung von einem Politoffizier bekannt gegeben. „Wir haben alles stehen und liegen lassen“, erinnert sie sich. „Auf einmal war klar: Der Sieg ist unser.“

Mogilowo lag in einer Landzunge, die die Deutschen noch einige Zeit halten konnten, obwohl die Front im Norden und Süden bereits nach Westen vorgerückt war und die Grenze der Sowjetunion erreicht hatte. „Lust weiterzuziehen hatten wir keine mehr, die Luft war raus, die Heimat war befreit, warum sollen wir jetzt noch fremde Länder besetzen?“, beschreibt Tschernyschowa die Stimmung unter den Kameraden.

Der Krankenschwester war die Normandie schon vorher nicht ganz unbekannt. Sie hatte nämlich Jacques Gaston kennen gelernt, einen Fliegerkapitän und „Normannen“, der seit Anfang 1944 auf sowjetischer Seite kämpfte. Ein brillanter Tänzer und tollkühner Pilot sei er gewesen. Galant und wohlerzogen, schwärmt Tschernyschowa. Hinter der Front sorgten Romanzen – „harmlose Abenteuer“ – für ein bisschen Abwechslung. „Wir waren junge Mädchen, von uns gab es nur wenige in der Nähe der Front.“ Aufmerksamkeit sei ihnen gewiss gewesen, sagt sie mit einem Zwinkern. Veras Freundin Rita heiratete einen Piloten aus Paris und ging mit ihm nach dem Krieg in den Westen.

Fraternisierung mit den Alliierten sah die Führung der Roten Armee nicht gern. Die Politkommissare warnten denn auch vor zu großer Freude: Noch seien sie Verbündete, daran werde sich aber bald einiges ändern. Vera verlor Rita aus den Augen, schreiben durfte sie ihr im Kalten Krieg nicht mehr. Den späten Kriegseintritt haben die Russen den Amerikanern nicht verziehen. Daran änderte auch die Landung in der Normandie nichts mehr. Wohl deshalb hält sich in Russland der Mythos hartnäckig, die Rote Armee hätte Deutschland allein in die Knie gezwungen. Tschernyschowa sieht das anders und rührt an ein Tabu: „Ohne die Lebensmittel, Kleider und Waffenlieferungen aus den USA seit Beginn des Krieges wären wir in eine sehr schwierige Lage geraten“, sagt sie. Sie habe auch damals kein Hehl daraus gemacht und immer gesagt, was sie dachte.

Mit einer Ausnahme. Die Empfindungen für Kurt, einen verwundeten deutschen Gefangenen, behielt sie für sich. Ihre Mutter hatte sie angefleht, nicht so arglos zu sein. Wenn sie sich unbeobachtet fühlten, sang sie mit Kurt Marika Rökks Schlager „In der Nacht ist der Mensch nicht gern alleine“. Sie pflegte ihn gesund, und Kurt wurde daraufhin in ein Kriegsgefangenenlager verlegt. Dreißig Jahre später hat die Veteranin noch einmal versucht, den Verschollenen in Deutschland ausfindig zu machen. Vergebens.

KLAUS-HELGE DONATH

Der Sheriff

Wie alt sie am D-Day war, will Anne Springman nicht verraten. „Eine Lady muss doch ein Geheimnis haben“, lacht sie, „ich bin eine ältere Alice im Wunderland.“ Die Lady trägt einen pinkfarbenen Rock und eine farblich abgestimmte Jacke, ans Revers hat sie eine große Brosche gesteckt. Anne Springman ist Sheriff auf der Isle of Whight, sie ist die Repräsentantin der Königin.

Seit fast tausend Jahren ist ihre Familie im Besitz der Shanklin Chine, einer Klamm im Südosten der Insel. Auf diesem Gelände übten die britischen Soldaten den Angriff auf Dieppe. Und von hier aus wurden die alliierten Truppen in der Normandie mit Benzin versorgt. Nach Eisenhower eines der gewagtesten Projekte des Zweiten Weltkriegs.

Allerdings hat Anne Springman lange Zeit gar nicht gewusst, welche strategische Rolle die romantische Felsenschlucht ihrer Eltern bei der Befreiung Europas spielte. „Es war natürlich streng geheim“, sagt Springman, „als die Soldaten kamen, wurden wir alle evakuiert. Mich schickte man in die Grafschaft Berkshire aufs Internat.“ Dass es so etwas wie den D-Day gibt, hat Springman erst in der Zeitung gelesen. Aber die Truppen waren für die Lady auch aus ganz anderen Gründen interessant: „Ich erinnere mich noch gut, dass uns die dort stationierten kanadischen Soldaten immer zum Tee einluden.“ Und nun verrät sie doch ihr Alter: „Uns war das verboten, und so mussten wir uns immer aus dem Internat schleichen. Ich war ja schließlich erst dreizehn.“ Zwar waren die Soldaten Verbündete, und so fielen die Warnungen der Lehrerinnen nicht ganz so streng aus, doch immerhin wurden die Internatsschülerinnen ermahnt, die Jungs nicht zu sehr anzustrengen. „Die Lehrerinnen erklärten uns, dass sich die Soldaten auf den Krieg vorbereiten und keine Ablenkung gebrauchen können“, erinnert sich Springman. Sowohl Mädchen als auch Soldaten waren vermutlich anderer Meinung, aber mehr als diese Andeutungen will Springman nicht preisgeben. „Es ist ja schon so lange her.“

Springman ist in Shanklin geboren. Seit 1981 leitet sie die Klamm, eine der Sehenswürdigkeiten der Insel. „Jeder Künstler, jeder Dichter hat die Shanklin Chine besucht“, erzählt sie stolz. „Dickens, Tennyson, Wordsworth, Liszt und Turner. Queen Viktoria bewunderte ihre wilde Schönheit.“ Wenn man die Schlucht hinter dem Crab Inn betritt, muss man rund hundert Stufen neben einem Wasserfall hinabsteigen. Ein Fußweg führt am Fluss entlang durch üppige Vegetation. Neben dem Restaurant, das früher eine Pension für Flitterwöchler war und später die britischen Offiziere beherbergte, steht eine große Voliere mit einheimischen Vogelarten.

Schräg gegenüber liegt ein 65 Meter langes, dickes Rohr: der Überrest des Projekts „Pluto“. Diese „Pipeline under the Ocean“ kam aus dem Norden Englands, verlief von Southampton durch den Solent zur Isle of Wight und dort durch die Klamm. „Die ersten hundert Kilometer Rohre auf dem Meeresboden nach Frankreich haben sie in weniger als zehn Stunden verlegt“, sagt Springman. Durch diese Leitung haben die Alliierten Benzin für die Truppen nach Frankreich gepumpt, vorbei am Fisherman’s Cottage, wo die Rohrleitung im Meer verschwand – 56.000 Gallonen Benzin pro Tag, in sicherer Entfernung zur Luftwaffe.

Zum sechzigsten Jahrestag des D-Day hat Springman eine Neuauflage eines Buches über die Operation Pluto herausgegeben und eine kleine Ausstellung im Restaurant organisiert. Seit zwanzig Jahren gibt es eine Vereinigung der Veteranen, die damals in der Shanklin Chine für die Landung in der Normandie gedrillt wurden. An den Jahrestagen treffen sie sich in der Klamm und halten einen Gedenkgottesdienst ab. Diesmal haben die Gebete für gutes Wetter einen nicht ganz so weittragenden Grund wie vor sechzig Jahren: Der Männerchor aus Worcester will im Freien der Shanklin Cline ein Ständchen singen. RALF SOTSCHECK

Die Deportierte

Izabela Sztrauch hat seit vier Jahren nichts mehr von der Welt jenseits der Mauern und des Stacheldrahts gesehen. Der einzige Kontakt nach außen sind die deutschen Soldaten. Wenn die morgens in ihren Lastern vor den Wohnblocks vorfahren, tragen die Erwachsenen ihre Kranken und ihre Alten schnell durch die Hinterhöfe weg. Sie sollen nicht dabei sein, wenn die Deutschen sämtliche Bewohner vor die Türe treten lassen. Denn die nehmen immer die schwächsten mit. „In Krankenhäuser. Da geht es ihnen besser“, sagen sie. Aber im Ghetto von Lodz glaubt ihnen längst niemand mehr.

Im ersten Jahr nachdem die Apotheke beschlagnahmt wurde und die Familie Sztrauch auch ihre große Wohnung an der Polsudskiego 72 verlassen musste, hat es immerhin noch eine Schule im Ghetto gegeben. Im zweiten Jahr haben die Deutschen die Schule geschlossen. Izabela arbeitet seither in einer Fabrik. Sie wird in Ghetto-Geld bezahlt, das nur innerhalb der Mauern, in denen 200.000 Menschen eingesperrt sind, einen Wert hat. Nichts erinnert mehr an ihre alte Welt. Kein Kino und kein Café. Kein rhythmisches Tanzen und keine Klavierstunden. Keine geschneiderten Kleider, kein privater Französischunterricht. Was bleibt, sind die Bücher aus der Ghettobibliothek. Izabela verschlingt alles, was ihr in die Hände fällt.

Im dritten Jahr stirbt der Vater. In dem kleinen Zimmer, das die Familie Sztrauch gemeinsam bewohnt, hört Izabela in der Nacht die Mutter flüstern: „Sie ist kräftig und intelligent. Sie wird überleben.“ Im selben Jahr 1942 gerät Izabels Onkel Natas in freudige Aufregung. Jemand hat ihm versichert, die Amerikaner seien auf dem Vormarsch und würden bald in Lodz ankommen. Möglicherweise sogar schon vor den Russen. Um die Jugendlichen vorzubereiten, gibt er ihnen Englischunterricht.

Als die Amerikaner im Juni 1944 tatsächlich in der Normandie landen, haben die Deutschen den Onkel schon lange abgeholt. Izabela ist 15. Ihr Magen ist geschrumpft, sie spürt kaum mehr Hunger. Aber ihr ist fast ständig kalt. Sie wäscht ihr dunkles Haar immer noch mit dem französischen Shampoo, das die Mutter aus der Apotheke mitgebracht hat. Für Izabela ist klar, dass sie auf gar keinen Fall mit einem Jungen schlafen wird, bevor sie achtzehn ist. Im Sommer 1944 stellt eine gleichaltrige Freundin die Frage: „Und wenn wir niemals achtzehn werden?“

Irgendwo in Izabelas Wohnblock gibt es einen Radioempfänger. Wo er steht, sagt niemand. Schon gar nicht einem jungen Mädchen. Auf den Besitz eines solchen Gerätes steht die Todesstrafe. In vagen Anspielungen erzählen die älteren Jungen Nachrichten aus der Welt, die sie gehört haben wollen. Sie reden von Fronten, die sich nähern. Und von Niederlagen der niemcy. Die jungen Leute im Ghetto fühlen sich von allen im Stich gelassen. Von ihren katholischen Landsleuten, die sie in die Rachen des Wolfes geworfen haben, „um sich selber zu retten“. Von den Franzosen, „die im Krieg gegen Deutschland viel zu schnell aufgegeben haben“. Und von den Amerikanern, „die abwarten, statt zu kämpfen“. Am meisten Verständnis haben sie noch für die Russen, „die sich immerhin schlagen, auch wenn die Deutschen so stark sind“.

Im Sommer 1944 steht Izabela das Schlimmste noch bevor. Immer häufiger tauchen Plakate auf, in denen von Arbeit und sicherem Leben in Deutschland die Rede ist. Jeden Morgen kommen jetzt deutsche Militärlaster. Sie nehmen nicht mehr nur die Kranken und Alten mit. Sondern alle. Izabelas Mutter will das Ghetto nicht verlassen. Sie packt die wichtigsten Dinge in einen kleinen Koffer und versteckt sich zusammen mit ihrer Tochter. Erst in einem Kohlehaufen. Dann in einer fremden Wohnung, in einem Loch unter dem Parkett. Als die Deutschen kommen, klopfen sie so lange mit Gewehrkolben auf den Boden, bis sie einen Hohlraum entdecken. „Raus“, schreien sie, „Juden raus!“ Sie treiben die Frauen zu den Viehwaggons am Bahnhof.

Von Lodz ist Auschwitz nicht weit entfernt. Bei der Ankunft auf der Rampe stellt Izabela fest, dass ihre 45-jährige Mutter weißhaarig geworden ist. Neben dem jungen Mädchen läuft ein Mann im Sträflingsanzug her. „Am Ende der Rampe ist eine Selektion“, raunt er ihr zu, „links ist das Leben, rechts der Tod.“ Izabela greift nach der Hand ihrer Mutter und zieht sie hinter sich her. Wie in Trance drängelt sie sich durch die Menge nach vorn. Im Vorbeigehen flüstert sie nach beiden Seiten: „Geht nach links, geht nach links.“

Sechzig Jahre sind vergangen. Isabelle Choko sitzt auf einem breiten Sofa in ihrer großen Wohnung über den Dächern von Boulogne, im Westen von Paris. Sie trägt ein geblümtes Sommerkleid. Sie hat die Augen mit hellblauem Lidstrich geschminkt. Sie hat in Frankreich geheiratet, drei Söhne in die Welt gesetzt und ein Unternehmen für Design gegründet. Ihr Körper hat sanfte Rundungen bekommen. Wenn sie sagt: „Geht nach links“, dann ist sie wieder auf der Rampe von Auschwitz.

Erste Details über die alliierte Landung erfahren die beiden Frauen aus Lodz mehrere Wochen nach Auschwitz. Da sind sie kahl geschoren und tragen die graue Streifenkleidung der KZs. Sie sind in einem Arbeitskommando in Celle eingesetzt. Müssen für das Unternehmen „Hochtief“ Löcher ausschachten. Manchmal werfen alliierte Flieger Bomben über ihrer Baustelle ab. „Nie habe ich Leute mit mehr Angst gesehen als unsere SS-Kommandanten“, erinnert sich Isabelle Choko, „wie die Hasen rannten sie in den nächsten Unterstand. Wir hingegen hätten tanzen können. Vor Freude über die Bomben.“ In Celle arbeiten auch französische Kriegsgefangene. Sie transportieren Baumaterial. Eines Tages traut sich die Tochter einen Satz aus ihrem lang zurückliegenden Französisch-Privatunterricht zu sagen: „Quelle heure est-il?“ Der Kontakt ist hergestellt. Jeden Tag drängt sich fortan einer der französischen „KG“ an das ausgemergelte Mädchen heran und flüstert ein paar aufmunternde Worte in ihr Ohr. Immer sind es Frontverläufe. Die Namen der Orte, die im Osten die Russen und im Westen die Amerikaner erobern, rücken immer näher.

Wenige Wochen vor der Befreiung werden die Frauen nach Bergen-Belsen gebracht. Die Mutter überlebt das Lager nicht. Das 16-jährige Mädchen wiegt 25 Kilogramm, als ein englischer Sanitäter es am 15. April 1945 aus dem KZ trägt. Sie hat einen Typhus hinter sich, Eiterbeulen am ganzen Körper und ist unfähig, auf ihren Beinen zu stehen. Sie ist eine von rund 5.000 Menschen aus dem Ghetto von Lodz, die 1945 noch leben.

Aus Polen ist Isabelle Choko ein harter Akzent in ihrem Französisch geblieben. Sonst nichts. Aus Deutschland hat sie einen beinahe permanenten Schmerz im rechten Arm und Narben an Beinen und Füßen behalten.

Vor knapp drei Jahrzehnten, als Isabelle Choko zum ersten Mal freiwillig nach Deutschland gereist war, flatterte ihr ein Werbeprospekt von „Hochtief“ in den Schoß. Sie schickte einen Brief an das Unternehmen. „Ich habe einmal acht oder neun Monate für Sie gearbeitet“, schrieb sie, „und ich bin nicht bezahlt worden. Meine Mutter, die leider verstorben ist, hat auch für Sie gearbeitet.“ Eine Antwort von „Hochtief“ ist bis heute nicht in Paris angekommen.

DOROTHEA HAHN

Die Kämpferin

Sie ist das Mädchen, das an einem Sonntagnachmittag auf einer Brücke über die Seine einen deutschen Offizier erschießt. Das die Folter der Gestapo erträgt, ohne einen einzigen Kameraden aus der Résistance zu verraten. Das beim Volksaufstand von Paris auf einer Barrikade steht und die „Compagnie Saint-Just“ kommandiert, in der außer ihr fast nur Männer kämpfen.

„Das wird Ihre Leser schockieren“, wehrt Madeleine Riffaud ab – sechzig Jahre nach dem Sommer, in dem sie eine Heldin wurde, „es war eine harte Zeit. Heute sind die Dinge zwischen Franzosen und Deutschen anders. Und das ist sehr gut so.“ Doch die 79-Jährige lässt sich nicht lange bitten. Sie kniet am Boden ihrer Wohnung in Paris. In einer Voliere zwitschern Singvögel, und Madeleine Riffaud erzählt von „klandestinen Treffen“, von „Beschaffungsaktionen“ und von „Massenmobilisierungen“, als wäre sie mitten drin.

Am Tag der Landung ist sie „Rainer“. Den Namen ihres Lieblingsdichters Rainer-Maria Rilke hat sie gewählt, als sie mit 17 den lang gesuchten Kontakt zur Résistance findet. Sie tritt einer Gruppe von Medizinstudenten bei, die im Quartier Latin aktiv ist. Sie ist mit einem der Studenten verlobt. Die anderen finden sie ein wenig jung. Nennen sie „la petite“. Rainer darf nur Botendienste erledigen. Flugblätter verteilen, Waffen transportieren, Mitstreiter informieren, wenn jemand verhaftet wird. Aber Rainer will mehr. Im Februar 1944 geht sie auf Beschluss ihrer Gruppe in den Untergrund, in die Illegalität. Die Hebammenschule muss sie aufgeben. Die Eltern im nordfranzösischen Amiens wundern sich, dass die Tochter das Fahrrad mit nach Paris nimmt. Sie verschweigt ihnen, dass die Métro für eine „Illegale“ wie sie zu gefährlich ist. Wegen der deutschen Razzien.

Am 6. Juni 1944 hört ein Freund schon am Vormittag auf BBC von der Landung der Alliierten. „Es gibt Kämpfe auf dem nationalen Territorium“, sagt er strahlend zu Rainer, „scheint eine große Sache zu sein.“ Die junge Frau mag es kaum glauben. „Bist du sicher, dass es nicht wieder eine Finte ist?“, fragt sie. Am Abend desselben Tages weiß man in Paris, dass die Rache für die Landung begonnen hat. Im Gefängnis der normannischen Industriestadt Caen haben die Deutschen dreißig Résistants aus ihren Zellen geholt und erschossen. „Darüber, dass es endlich eine zweite Front im Westen von Europa gab, haben wir uns gefreut“, sagt die alte Dame, „aber wir wussten, dass die kommenden Kämpfe blutig und lang werden würden.“

Der Widerstand gegen die Deutschen hat im Jahr des Waffenstillstands begonnen. Am 11. November 1940 erinnern ein paar Schüler am Denkmal des unbekannten Soldaten in Paris an den französischen Sieg aus dem Ersten Weltkrieg. Sie werden sofort zusammengeknüppelt. Die Öffentlichkeit erfährt nichts. Vier Jahre danach hat sich die Stimmung geändert. Zigtausende junge Franzosen haben sich dem Widerstand angeschlossen. Die Schlacht von Stalingrad und andere deutsche Niederlagen sind bekannt. Die alliierte Landung in der Normandie ist ein weiterer Ansporn. Zugleich werden die Gestapo und ihr französisches Gegenstück, die Milice, brutaler. Die jungen Frauen in der Résistance haben höllische Angst vor der Milice. „Sie hat systematisch vergewaltigt“, sagt Madeleine Riffaud.

Der Erfolg der Résistance stellt auch Rainers kleine Widerstandgruppe vor neue logistische Herausforderungen. Sie muss jetzt mehr Essensmarken besorgen und mehr falsche Papiere und illegale Unterkünfte. Das Mädchen macht täglich irgendwo in der Pariser Region „Beschaffungsaktionen“: Druckmaschinen für illegale Flugblätter und Waffen, für Attentate. Sie schmuggelt auch Plastiksprengstoff in die Tanks von deutschen Militärlastern.

An einem Tag im Juni 44 steht Rainer auf einer Straßenkreuzung am Boulevard Magenta. In Paris hat die kommunistische Résistance die Mehrheit. Es geht jetzt darum, den Volksaufstand vorzubereiten. Paris soll sich von innen befreien. Bevor die alliierten Truppen von außen einmarschieren. Und bevor General de Gaulle auf dem Rückweg aus London alle Macht an sich reißt. Zum ersten Mal zeigt sich Rainer öffentlich mit einer Waffe. „Brot“, ruft sie auf dem Boulevard Magenta. Andere stimmen ein. Als Nächstes verlangen sie die Freilassung der Kriegsgefangenen. Dann fordern sie: „Die Deutschen sollen nach Hause gehen.“

Die französische Polizei ist im Juni 1944 schon nicht mehr sehr diensteifrig. Ganz langsam quälen sich die Polizisten aus ihren Wagen. Als die Deutschen kommen, fliehen die jungen Résistants in alle Richtungen. Rainer läuft in ein Mietshaus. Klopft an eine Wohnungstür. Eine Frau lässt das Mädchen unter einen großen roten Plumeau schlüpfen.

Der Kommandant der westlichen Alliierten in Europa, US-General Eisenhower, hat die Résistance nach der Landung aufgefordert, überall in Frankreich die deutschen Truppen an einem Marsch auf die Normandie zu hindern. Die Résistance sprengt Strommasten, Brücken und Eisenbahnstrecken. Die Deutschen schlagen brutal zurück. Oft gegen die Zivilbevölkerung. In dem westfranzösischen Städtchen Oradour-sur-Glane treibt die SS-Division „das Reich“ am 10. Juni die Dorfbewohner in der Kirche zusammen. Wirft Granaten in die Kirche und steckt das Gebäude in Flammen. 624 Menschen kommen um, darunter 207 Kinder und 245 Frauen.

„Rache für Oradour!“, rufen wenige Tage später Gymnasiasten in Paris. Rainer bekommt den Auftrag, den Feind fortan überall anzugreifen. Ihre Eltern stammen aus Oradour-sur-Glane. Als Kind hat sie dort die Ferien verbracht, bei Lehrern, die in der Kirche verbrannt worden sind. An einem Hochsommertag erschießt ein Wehrmachtssoldat einen ihrer Kameraden von hinten. Während der auf einer Bank sitzt. Rainer ist überzeugt: „Nur ein Mädchen kann darauf adäquat reagieren.“ Am Sonntag, den 23. Juli, nimmt sie einen Revolver und fährt mit dem Fahrrad an die Seine. Auf der Brücke Solferino sieht sie einen deutschen Offizier. Er blickt auf die Seine. Sie radelt ganz nah dran. Und schießt.

Den Rest erzählt die alte Dame sehr schnell: Ein Milizionär verhaftet das Mädchen. Gibt sie in der Rue Saussaies in der Gestapo-Zentrale ab und kassiert die Prämie für die „Terroristin“. Bevor die Verhöre beginnen, die vier Wochen dauern sollen, hört Rainer einen Deutschen sagen: „Wenn die Résistance uns kleine Mädchen wie die hier schickt, dann sind wir nirgends mehr sicher.“ Sechzig Jahre später sagt die alte Dame: „Genau das wollte ich erreichen.“

Dass Rainer der Hinrichtung entgeht, grenzt an ein Wunder. Sie wird wenige Stunden vor dem Aufstand in Paris, in der Nacht zum 19. August freigelassen. Tags drauf kämpft sie wieder. Am Tag der Befreiung Paris, dem 25. August 1944, wird Rainer zwanzig.

Die Männer aus der Résistance gehen anschließend in die reguläre Armee und marschieren nach Deutschland ein. Die junge Frau wird abgelehnt. Sie ist von der Folter verletzt. Und hat eine offene Tuberkulose. Rainer verwandelt sich zurück in Madeleine Riffaud. Schreibt Gedichte. Und wird das Maskottchen von Pariser Intellektuellen, die von ihrem Mut und von ihrer Schönheit schwärmen. Der Schriftsteller Paul Eluard rät ihr, Journalistin zu werden. General de Gaulle verleiht ihr eine militärische Auszeichnung. Picasso zeichnet sie. Sein Porträt von ihr hängt heute gegenüber der Voliere in ihrer Wohnung.

Ein halbes Jahrhundert lang hat Madeleine Riffaud über andere geschrieben. Sie war Kriegskorrespondentin in Algerien und Vietnam. In Algerien überlebte sie nur knapp einen Anschlag der OAS. Über ihre eigene Zeit als Widerstandskämpferin schweigt sie.

Erst zum fünfzigsten Jahrestag der Befreiung Frankreichs beginnt Riffaud ihre Erinnerungsarbeit. Sie ist fast blind. Sie kann nicht mehr selbst schreiben.

„Mitte der 90er-Jahre wollten die Amerikaner die Befreiung Frankreichs ganz auf ihre eigenen Fahnen schreiben. Die Résistance wollten sie unterschlagen. Das konnten wir nicht zulassen“, sagt sie. „Das bin ich meinen gefallenen Kameraden schuldig.“ Am Ende ihres Lebens taucht Madeleine Riffaud wieder in ihre Jugend ein. Sie hat ein Buch über ihre Résistance diktiert. Hat bei einem Film mitgearbeitet. Und wenn eine Schulklasse sie einlädt, kommt sie und erzählt über die Zeit, als sie Rainer war.

DOROTHEA HAHN

Die Ehefrau

Nach drei Jahren Trennung sah die Amerikanerin Marie Tsucales ihren Mann endlich wieder. An diesem Tag im Frühjahr 1946, so hatte man ihr gesagt, würde sein Schiff einlaufen. Doch am Hafen von New Jersey erblickte sie ihn nur kurz und aus der Ferne. Kaum war er die Landungsbrücke heruntergelaufen, verschwand James auch schon in einem Eisenbahnwaggon, der ihn in ein Lager der Armee nach Maryland brachte. Tsucales fuhr ihm kurzentschlossen nach. Zwei Tage benötigte sie, bis sie das Lager erreichte. Dann endlich fand sie ihren Mann. Er stand auf der Veranda einer Baracke. „Du bist aber spät“, sagte er.

„Was für ein profaner Satz“, meint sie heute und lacht. „Aber es war der schönste in meinem Leben.“ Jahrelang hatten die beiden nur brieflich kommunizieren können. Mit großer Verspätung hatte Marie Tscucales erfahren, dass ihr Mann wenige Tage nach dem D-Day an die Front nach Frankreich geschickt worden war. Manchmal kam drei Monate lang gar keine Post. Dann erreichte sie plötzlich wieder ein ganzer Stapel. Aber das war eigentlich auch ganz gut, sagt sie heute. „Was hilft es zu wissen, ob er gerade nahe einer Schlacht war?“ Es ist ihr unerklärlich, wie Familienangehörige heute die Informationsflut aus dem Irak aushalten.

Wieder ist Frühjahr, und die 88-Jährige mit den schlohweißen abstehenden Haaren sitzt im Garten eines All-Inclusive-Seniorendorfes zwanzig Meilen nördlich von Washington. Tsucales nennt es ihren „Luxusdampfer ohne Wasser“. An der Seite ihres Elektrowagens, der sie mobil hält, baumelt eine kleine Tasche mit dem Foto ihres Mannes James. Er wurde wegen seiner stahlblauen Augen immer für einen Deutschen gehalten, erzählt sie, doch er stammte aus einer griechischen Einwandererfamilie in New Jersey, wie sie.

Tsucales traf ihren späteren Ehemann Mitte der Dreißigerjahre an der Medizinischen Fakultät der Georgetown University in Washington. 1937 heirateten sie. Ein Jahr später bekamen sie ihr erstes Kind. 1940 eröffneten sie gemeinsam eine Arztpraxis gegenüber von Manhattan auf der anderen Seite des Hudson River. Der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor im Dezember 1941 und der folgende Kriegseintritt der USA beendeten jäh ihr Familienglück. James meldete sich freiwillig zum Lazarettdienst. Es folgte eine monatelange Odyssee durchs Land. Von einem Trainingslager zum anderen. Und immer fuhr Marie hinterher. Während ihr Mann in den Kasernen untergebracht war, suchte sie nach einem Quartier für sich und die beiden Kinder. Sie klopfte an fremde Türen, bat um ein freies Zimmer oder eine Kammer. „Ich wurde oft gefragt, warum ich diese Strapazen auf mich nahm. Doch ich wollte meinem Mann so nah wie möglich sein und ihn unterstützen. Ich musste doch damit rechnen, ihn nicht mehr wiederzusehen.“

Ende 1943 wurde James Tsucales nach England verschifft und in einem Londoner Hospital stationiert. Marie zog mit den Kindern zu ihren Eltern nach Washington, das damals einer Garnisonsstadt glich: überall Männer in Uniform. Alles war rationiert: Nahrungsmittel, Benzin. Auch der Strom wurde regelmäßig abgeschaltet, um Energie für die Rüstungsproduktion zu sparen.

Der Krieg veränderte alles, erzählt sie. Schwarze und Weiße kämpften gemeinsam. Die Wunden des Bürgerkrieges schienen jetzt endlich zu verheilen. Frauen verließen die Küchen und gingen in die Fabriken. Tsucales arbeitete in den Hospitälern der Stadt, rollte wochenlang Verbände und schnürte Sanitätspakete. Alles ohne Lohn. Später half sie in einer Sammelstelle des Militärs, in der Einwohner Butter oder Bratfett abgeben konnten, das sie trotz der knappen Lebensmittelrationen nicht verbraucht hatten. „Die Solidarität war einzigartig. Die beste Generation, die Amerika je hatte. Unser Patriotismus war so stark, wir lebten nur noch, um den Feind zu besiegen und die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“

Die schwierigsten Momente waren jedoch nicht die des Alleinseins mit den Kindern, die Ungewissheit über die Situation ihres Mannes. Am anstrengendsten war das Nomadenleben vor seiner Abreise, waren die oft tagelangen Zug- und Busreisen durch das riesige Land, als er in Ausbildungscamps auf den Kriegseinsatz vorbereitet wurde. Das Geld war knapp. Die Waggons waren dreckig, kalt oder heiß und mit Soldaten überfüllt. Es gab kein Wasser, kein Klo. Stattdessen zwei kleine ungeduldige Kinder. Würdelos kam sie sich vor, wenn sie bei fremden Menschen immer wieder um Obdach bitten musste. Doch eine Bleibe zu finden war meist kein Problem. Schließlich standen viele Wohnungen und Zimmer leer, da ihre Mieter in den Krieg gezogen waren. Die glücklichsten Augenblicke waren dann jene, wenn sie die Kinder abgeben konnte, Zeit hatte, noch einmal mit James ins Kino oder eine Bar zu gehen.

Nach dem Krieg gingen beide wieder nach New Jersey, liehen sich 7.000 Dollar für ein Haus und machten erneut eine Arztpraxis auf. James arbeitete wie ein Tier und sprach kaum über den Krieg. „Das sollte wohl helfen, die Erinnerungen auszulöschen.“ 1963 starb er an Herzversagen. Da war sie 47 Jahre alt. „Schweigen ist ungesund. Man muss die Dinge beim Namen nennen, auch wenn es schmerzt.“

Bevor sie zum Friseurtermin fährt, will sie noch loswerden, was dieser Tage vielen Kriegsveteranen und deren Familien auf der Seele liegt. Der Irakkrieg sei „falsch“, sagt sie etwas aufgebracht. Damals hatte Amerika einen überzeugenden Grund zu kämpfen. „Ich würde meinem Enkel das Bein brechen, damit er nicht nach Bagdad abkommandiert wird.“ Leider sei sie zu alt, um politisch aktiv zu sein. Sonst würde sie Proteste gegen den Krieg organisieren.MICHAEL STRECK