„Da war eine Frau in höchster Not“

Nicht das SED-Regime, sondern die Verwestlichung des Ostens nach der Wiedervereinigung führt zu Tragödien wie die Kindermorde von Brieskow-Finkenheerd. Die DDR-Strukturen sind weggebrochen, ein neuer Halt ist nicht entstanden

taz: Herr Maaz, Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm sieht als Grund für die Kindsmorde in Frankfurt (Oder) die „Proletarisierung“ der Bevölkerung durch das SED-Regime. Ist das plausibel?

Hans-Joachim Maaz: Überhaupt nicht, das ist eine Unverschämtheit. Genau das Gegenteil ist richtig: Die Verwestlichung der DDR-Verhältnisse nach der Wiedervereinigung hat eine starke Verunsicherung mit sich gebracht. Die gewohnten Strukturen sind zusammengebrochen. Würde ich in diesem Fall als Gutachter tätig, würde ich zum einen die persönliche Geschichte untersuchen. Da müssen schwerste seelische Verletzungen eine Rolle spielen. Persönlichkeitsstörungen muss man nicht gleich erkennen, sie sind oft verborgen. Es kommen soziale Aspekte hinzu, soziale Verunsicherungen wie Partnerschaftskrisen oder ein Arbeitsplatzverlust. Dies könnten äußere Faktoren sein, die die schon vorhandene innerseelische Problematik aktiviert und verstärkt haben.

Ist der Fokus auf „den Osten“ überhaupt sinnvoll?

Nur indirekt. Menschen wurden in der DDR so erzogen, dass sie in ein Kollektiv, in soziale Gemeinschaften eingebunden waren. Das kann man positiv oder negativ bewerten: Einerseits hatten sie zu wenig Freiheiten, wurden nicht richtig eigenständig. Andererseits bedeutet es aber auch, das Menschen, die zu wenig Selbstbewusstsein hatten, in solchen Strukturen Halt gefunden haben. Nach der Wende haben wir sehr viele Menschen in der Behandlung gehabt, die durch Verlust dieser Strukturen erst krank geworden sind.

Auch der Westen ist durch Individualisierung geprägt. Welche Strukturen tragen denn dort noch?

Die Kirche spielt noch eine nicht zu unterschätzende Rolle, außerdem gibt es dort mehr Vereine etc. Aber auch die materiellen Verhältnisse sind wichtig. Hat man Geld, kann man sich durch Statussymbole aufwerten. Man erhält Halt durch Geld.

Spielen Arbeitslosigkeit, Abwanderung, also die Hoffnungslosigkeit einer Region, eine Rolle?

Ja, eben in dem Sinne, dass reale, soziale Veränderungen wie Arbeitslosigkeit oder Wohnungsverlust innerseelische Konflikte aktivieren können. Wir haben das oft in unseren Therapien. Menschen kommen zu uns, die nach einem Arbeitsplatzverlust depressiv geworden sind. Wir suchen dann, warum dieser Mensch krank wird, und andere Arbeitslose nicht. Fast immer finden wir eine vorhandene, aber verborgene Belastung aus der Frühgeschichte, die wiederbelebt wird.

Man sagt, die Solidarität der Bevölkerung im Osten sei größer als im Westen. Gilt das nicht mehr?

Sie war in der DDR vorhanden, auch wenn man sie nicht idealisieren darf. Aber es gab eine soziale Verbundenheit. Die ist aber mit der Wende für die meisten Menschen verloren gegangen. Durch die wirtschaftliche Krise gibt es im Osten die Tendenz, vor allem erst mal an sich selbst zu denken, die Menschen müssen ihre Existenz und ihren Platz in der Gesellschaft sichern. Wenn man in Freiheit nicht erfolgreich ist, dann wird sie zum Problem.

Nachbarn, Familie, Bekannte – offenbar hat das gesamte Umfeld der mutmaßlichen Täterin weggeschaut. Warum?

Es gibt eine allgemeine menschliche Tendenz, wenn man Schwieriges ahnt, wegzuschauen und sich damit nicht zu belasten. Das ist eine weit verbreitete Abwehrleistung: Sich lieber nicht einmischen, um nicht mit eigenen Schwierigkeiten und Schwächen konfrontiert zu werden.

Merkt man jemandem, der neun Kinder bekommt und tötet, das nicht an?

Wenn die Frau es nicht wollte, dass man etwas merkt, hat man es in der Nachbarschaft oder im Bekanntenkreis wahrscheinlich wirklich nicht gemerkt. Auch dass die Mutter es nicht wusste, ist wahrscheinlich, denn ihre Beziehung zur Tochter wird sehr belastet gewesen sein. Dass ihr Mann es allerdings nicht mitbekommen hat, ist unwahrscheinlich.

Wenn die Gesellschaft versagt, muss dann nicht der Staat wieder eingreifen?

Natürlich wäre die bessere Lösung, die Menschen in ihrer Entwicklung zu unterstützen, damit sie unabhängig werden. Aber das braucht Zeit, das kann man nicht anordnen, aber genau das ist im Osten passiert. Wenn man Menschen plötzlich allein lässt, geraten sie in eine Krise, an der sie erkranken. Viele, wie auch diese Frau, hätten angesprochen werden müssen, man hätte sich um sie kümmern müssen. Man kann es dem Einzelnen nicht überlassen, wie er von kollektiven Verhältnissen in gesündere autonome Verhältnisse kommt. Die Kommunen müssten aktiv werden – bei allem, was ich über diesen Fall gehört habe, war da eine Frau in höchster Not. Man wird sie erreichen, wenn man sie anspricht.

INTERVIEW: H. HOLDINGHAUSEN