Der lange Abschied von Lilja Ignatova

■ Rhythmische Sportgymnastik: Medaillensüchtige Funktionäre in Bulgarien und der UdSSR drängen lustlose Sportlerinnen zum Weitermachen / Zunehmende Perfektion macht Bewertung immer schwieriger

Von Thomas Schreyer

„Wenn wir gut vorbereitet waren und das zeigen konnten, was wir zeigen wollten, werten wir das als Erfolg. Medaillen sind Nebensache.“ Das sind die Worte der bulgarischen Gymnastinnen. Es sind aber nur die Worte der Sportlerinnen. Die Funktionäre sehen die Welt anders. Für sie sind Medaillen nicht „Nebensache“. Kein an derer feiert einen Sieg euphorischer als sie. Kein anderer empfindet eine Niederlage schmerzreicher. So geschehen nach den Weltmeisterschaften in Valladolid 1985. Die sowjetischen Funktionäre glaubten, „ihre“ Vertreterinnen könnten absahnen. Gold blieb aber nur für die Bulgarinnen übrig. Das hatte eine „nationale Kampagne zur Rettung der Sport gymnastik“ in der UdSSR zur Folge. Yuri Titow, nationaler und internationaler Turnpräsident, rief zu einem Symposium, an dem Experten aller Sowjetrepubliken teilnahmen. In der Krisensitzung wurde beschlossen, die Stärken der Rhythmischen Sportgymnastik hervorzuheben: Ästhetik und Ausdruckskraft sollten wieder primär geschult werden, nicht mehr nur Technik. Ästhetik und Ausdruckskraft setzen allerdings eine gewisse Reife voraus. Junge Nachwuchs– Gymnastinnen, der Technik wohl schon kundig, seien in diesen Punkten jedoch noch ein Unsicherheitsfaktor. Die allseits bekannte und inzwischen zwanzigjährige Galina Beloglazova schien der Aufgabe in Hinblick auf die Europameisterschaften 1986 in Florenz gewachsen zu sein. Rücktrittswünsche der Gymnastin, die sich Anfang des Jahres mit einem Basketballspieler verheiratet hatte, nützten da nichts. Den bulgarischen Funktionären schien ihre 16 jährige Bianca Panova noch nicht sicher genug, und sie griffen deshalb auf Lilja Ignatova zurück. Auch der 21 jährigen aus Sofia halfen Rücktrittsbekundungen, die schon Millionen von Zeitungsleser(inne)n zur Kenntnis genommen hatten, wenig. Sie mußte sich dem von „Hintermännern“ initiierten Zweikampf Bulgarien–UdSSR beugen. Um so mehr konnte sie sich freuen, daß es bei den Europameisterschaften dreimal zu Doppelsiegen mit der Vereinskameradin Panova kam. Sie hatte ihre Nachfolgerin förmlich mitgezogen. Jetzt kann Ignatova aufhören. Der World– Cup in Tokio an diesem Wochenende ist ihr letzter Wettbewerb. „Dann ist endgültig Schluß“, meint die mehrfache Europa– und Weltmeisterin. Auch für die als „feengleich“ apostrophierte Galina Beloglazova wird es der letzte öffentliche Auftritt vor Kampfrichterinnen sein, obgleich sich ihre Nachfolgerinnen noch nicht so sehr in Szene setzen konnten wie die Bulgarinnen Bianca Panova und Adriana Dunavska. Beloglazova, obwohl zum Liebling des Florentiner Publikums avanciert, konnte den Sowjets auch nur zwei von fünf möglichen Goldmedaillen bescheren. Ansonsten blieb sie die „ewige Dritte“ - mit persönlichen Protesten freilich. Sie fühlte sich von den Kampfrichterinnen ungerecht behandelt, boykottierte Pressekonferenzen und Bankett, zog sich überall zurück. In der Rhythmischen Sportgymnastik wird es ohnehin immer schwieriger, die Siegerin zu küren. „Die machen kaum mehr Fehler, es gibt nichts mehr abzuziehen“, bemerkte eine Kampfrichterin. Eine „Zehn“ jagte in Florenz die andere. Beim World–Cup in Tokio wird dies nicht anders sein. Doch trotz der Perfektionsbewertungen fühlen sich die Gymnastinnen selbst noch nicht am Ende ihrer Künste. „Wir wollen die Perfektion erst noch erreichen“, sagen die Bulgarinnen, die „keine Pläne über die Medaillenausbeute“ machen, sondern über ihre Trainingsprogramme. Bianca Panova, in Italien dreifache Europameisterin, führte dies in der Praxis vor: In Florenz konnte sie bei dem Versuch, eine dreifache Pirouette zu drehen, nicht mehr stoppen. Sie drehte - als Uraufführung - einfach eine vierfache Pirouette. Wenn Funktionäre wüßten, was aus Mädchen, die sich vor Freude an ihrem Sport nicht mehr bremsen können, noch alles „rauszuholen“ ist...