Vom progressiven Chaos zum gestylten Wohnen

■ Vor zehn Jahren wurde in Tübingen das Haus Münzgasse 13 besetzt / Zum Jubiläum droht die Umwandlung des immer noch von Wohngemeinschaften bewohnten Hauses in ein Wohnheim mit Einzelzimmern / Die „Wilde 13“ ist noch nicht zahm

Aus Tübingen Petra Seitz

Im Stadtbild stört die „Münze“, ein vor zehn Jahren besetztes Haus in Tübingens Münzgasse, nach wie vor. Ein dreistöckiger alter Kasten, abbröckelnder Verputz, am Eingang zerfledderte Plakate. Kein Wunder, daß das staatliche Studentenwerk die Münzgasse 13 in jeder Beziehung zum „ordentlichen“ Wohnheim machen will. Dem selbstverwalteten Konkurrenten, dem Studentenwerk e.V. soll die Trägerschaft abgenommen werden. Schon vor zehn Jahren hatten das Land und sein Studentenwerk mit dem StuWe e.V. um den Besitz des Hauses gestritten. Nach über 40 Jahren Zweckentfremdung als Polizeiwache, sollte nach dem Willen des Landes in das traditionsreiche Studentenwohnheim das pädagogische Institut einquartiert werden. „Da fackelten wir nicht lange und besetzten das Haus“, heißt es in einem alten Flugblatt. Das Land gewann zwar den Prozeß um die Besitzrechte, das StuWe e.V. wurde jedoch als Trägerin des Wohnheims Münzgasse 13 geduldet. Wohnheim? Vor zehn Jahren, auf dem letzten Höhepunkt der Tübinger Studentenbewegung, zogen 32 Leute aus dem undogmatischen Spektrum ein, die sich stolz „Wilde 13“ nannten. Vier offene Wohngruppen gab es, entsprechend den jeweiligen politischen Tätigkeitsfeldern. Ein herrschaftsfreier Raum für eine politische Lebensweise und Stützpunkt der Sponti–Bewegung sollte die „Münze“ sein. Von der ersten Generation wohnt heute - abgesehen von Ja mes, einem eigenbrötlerischen Dauerstudenten und damaligen AStA–Mitglied - niemand mehr hier. Nach dem geschlossenen Auszug einer Wohngruppe, drei Jahre nach der Besetzung, erzählt er, sind jüngere Leute aus der Musikszene mit einem diffus subkulturellen Bewußtsein eingezogen. Selbst im Zuge der allgemeinen politischen Entwicklung sei ihnen schönes und billiges Wohnen wichtiger geworden als Politik. In dem Trakt, wo einstmals ein Mitglied der Anarcho–Fraktion den Gerichtsvollzieher unsanft die Treppe hinunterbefördert hatte, lebt jetzt eine dreiköpfige Wohngemeinschaft. Katrin und Wolfe haben eine Magisterarbeit über die „Münze“ geschrieben (“Macht und Widerstand in einem sozialisatorischen Gegenmilieu“). In der schwarz–weiß gestylten Küche erklärt mir Wolfe, der seit acht Jahren in der „Münze“ lebt, wie sich die Grundlage des Wohnens im Laufe der Jahre verändert hat. Am Ende der ersten, der „allgemeinpolitischen Phase“, fiel die Subkultur in zahlreiche Initiativen auseinander - Häuserkampf, Musiker, Autonome; auch eine taz–Initiative war dabei. Die anfänglich erbitterten Kämpfe ge geneinander haben inzwischen einem „extremen Individualismus“ Platz gemacht, Lebensstil und Wohnqualität sind in den Vordergrund gerückt. Ist die „Wilde 13“ zahm geworden? Im dritten Stock sicher nicht. Vier quicklebendige Leute erklären, völlig unbeeindruckt vom alten Mythos der „Wilden 13“, die „Münze“ sei „in der Innenstadt der echt geile Wohnraum“ als Freiraum einer anderen Kultur, wo immer was los ist und jeder nach seiner Faon leben kann. Für ihre Wohngemeinschaft steht weder das billige Wohnen im Vordergrund noch politische Ansprüche, sondern, wie es Anita formuliert, „der Fun–Gesichtspunkt“. Beim zehnjährigen Jubiläum und angesichts der drohenden Umwandlung in ein Wohnheim mit Einzelzimmern zeigt sich, daß in der Münzgasse 13 doch noch ein Stück „Wilde 13“ steckt. Im „Blauen Salon“ wird jetzt eine Dokumentation verkauft. Bei einer Veranstaltungswoche mit Hausbesetzervideos, einer Diashow und dem obligatorischen Fest hat man auch manchen Altkämpfer gesichtet. Die „Wilde 13“ wird nicht kampflos aufgeben. Das gehört für die aus dem dritten Stock eben auch zum „Fun“.