Tötung auf Verlangen - kein Problem?

■ In den Niederlanden ist Euthanasie ein vieldiskutiertes Thema geworden / Sterbehilfe wird dort täglich praktiziert und oft nicht bestraft / Wo liegen die Grenzen?

Von Henk Raijer

Angesichts der Greuel, die in Deutschland im Namen der Euthanasie begangen worden sind, ist die Diskussion über dieses Thema hier nach wie vor tabu. Im Prozeß um Beihilfe zum Mord an Tausenden von Geisteskranken während der NS–Zeit, hat noch vor zwei Monaten in Frankfurt der Angeklagte Dr. Aquilin Ullrich (72) die Tötung angeblich unheilbar Geisteskranker mit „letzter ärztlicher Hilfe“ gerechtfertigt - in „Fällen therapeutischer Hoffnungslosigkeit“. Bei unseren niederländischen Nachbarn dagegen ist vor einiger Zeit eine von solcher historischer Schuld unbelastete Diskussion um den „Tod auf Verlangen“ entbrannt. Das Unterlassen bzw. Abstellen lebensunterstützender Maßnahmen (passive Sterbehilfe); der durch einen Helfer auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten herbeigeführte Erlösungstod (Tötung auf Verlangen); das Eingreifen zur unmittelbaren Herbeiführung des Todeszeitpunktes (aktive Sterbehilfe) - um diese Begriffe geht es in der niederländischen Euthanasiediskussion. Gesetzlich verboten zwar und noch längst nicht all gemein akzeptierte Norm medizinischer und gesellschaftlicher Ethik, wird Sterbehilfe dort täglich praktiziert, manchmal öffentlich (etwa 20 registrierte Fälle jährlich), meistens jedoch im Verborgenen (zwischen 5.000 und 10.000 Fällen jährlich). „Tötung auf Verlangen“ ist nach niederländischem Recht verboten. Im September letzten Jahres allerdings wurde ein Arzt, der vor vier Jahren einer schwerkranken 95jährigen Patientin eine tödliche Spritze verabreicht hatte, auch in der zweiten Instanz freigesprochen. Das Gericht befand, die Handlungsweise des Arztes sei „im Rahmen der medizinischen Ethik vertretbar“ gewesen: Der behandelnde Arzt habe auf ausdrücklichen Wunsch der alten Frau gehandelt, deren Leiden nur noch über kaum vertretbare Dosierungen Morphium habe gelindert werden können. Ob im Falle der drei Krankenpfleger des Akademischen Krankenhauses von Amsterdam, die sich zur Zeit wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft befinden, ein ähnliches Urteil ergehen wird, ist ungewiß. Sie hatten, gegen die Anordnung des behandelnden Spezialisten, einem Jungen, der be reits vier Monate im Koma lag und laut EEG (Elektro–Encephalogramm), der Messung der Gehirntätigkeit, bereits gehirntot war, eine tödliche Injektion verabreicht, um die die Eltern seit längerem nachgesucht hatten. Einer Umfrage von 1984 zufolge befürwortet eine deutliche Mehrheit (70 wie aktive Euthanasie. Immer mehr Menschen kommt zu Bewußtsein, daß bei zunehmender Technologisierung der Medizin und Vergesellschaftung der Kranken–, Behinderten– und Altenpflege die Wahrscheinlichkeit wächst, daß auch sie einmal in die Lage kommen, sich gegen Fremdbestimmung von seiten der modernen Medizin zur Wehr setzen zu müssen. Von den befragten Hausärzten bekennen sich 83 passiver, 37 Recht auf Selbstbestimmung Nur die Katholische Kirche vertritt eine eindeutige Position: „Jeder Eingriff von Menschenhand in Anfang und Ende des Lebens ist Mord, denn der Mensch hat nicht das Recht, über sein Le ben zu verfügen - dies gehört nur Gott, seinem Schöpfer.“ Die Calvinistisch Reformierte Kirche hingegen, die im Umgang mit „heißen Themen“ wie z.B. Friedensbewegung und Homosexualität geübt ist, steht auf dem Standpunkt, daß lebensverlängernde Maßnahmen gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten „unmenschlich“ sind. Die 1973 gegründete Niederländische Vereinigung für Freiwillige Euthanasie (NVVE), die zahlenmäßig größte Vereinigung von Euthanasiebefürwortern, begreift sich, so ihre Vorsitzende Terborgh–Dupuis, als aufklärende Institution und gesellschaftliche „Pressure Group“. Angriffsziele in ihren Publikationen über die gesetzliche Situation in den Niederlanden bilden immer wieder Ärzte, Juristen sowie, im Hintergrund, der Gesetzgeber und namhafte Kirchenführer. Von den Ärzten wird das Recht eingefordert, eine Behandlung bzw. Reanimation gegen den eigenen Willen zu verweigern; von den Juristen und dem Gesetzgeber das Recht auf Selbstbestimmung und die Legalisierung von Euthanasie vermittels Streichung der Para graphen 293 und 294 der niederländischen Strafgesetzordnung. Vor einiger Zeit bereits hat die NVVE einen „Euthanasiepaß“ (in etwa dem Blutpaß vergleichbar) herausgegeben, der als zusätzliche Sicherheit zu der beim Arzt deponierten „Patientenverfügung“ konzipiert ist. „Konkrete Todeserwartung“ Auch im niederländischen Parlament werden Möglichkeiten zur Änderung bestehender rechtlicher Verhältnisse ausgelotet. Es gibt unter den Politikern verschiedenster Couleur eine Mehrheit, die einen Vorstoß der oppositionellen linksliberalen Partei „Demokraten 66“ begrüßt, die Gesetzgebung auf verantwortungsvolle Weise dem veränderten gesellschaftlichen Wertesystem anzupassen. Seit 1984 liegt dem Parlament eine Gesetzesinitiative der „Demokraten 66“ vor, die zwar Euthanasie nach wie vor unter Strafe stellt, dafür aber bestimmte Rechtfertigungsgründe gelten läßt, die es im Gesetz unterzubringen gelte. In einer „Notsituation“ handelt danach ein Arzt, wenn er der Meinung ist, daß die ihm auferlegte Pflicht, das Leben gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten zu verlängern, mit dessen augenscheinlich unerträglichem Leiden kollidiert und wenn ihn dieser noch dazu um Hilfestellung bei dessen Beendigung bittet. Die sozialdemokratische Partei PVDA unterstützt aus der Opposition heraus diesen Antrag ohne Wenn und Aber. Die regierende christdemokratische CDA hingegen sabotiert jeglichen Versuch, den Euthanasieparagraphen zu verändern. Sie würde ein Gesetz absegnen, das Sterbehilfe nur in der „Sterbensphase“ zuläßt, also im Moment der „konkreten Todeserwartung“. Gibt es auch eine starke Befürwortung für Euthanasie im Fall einer Willenserklärung des Sterbenden, so sind „Grenzfälle“ sehr umstritten: das Leben und Sterben von Koma–Patienten und psychisch Kranken, altersbedingter Schwachsinn oder Säuglinge mit einer Doppelbehinderung. Menschen also, die ihre Einwilligung nicht dokumentieren können bzw. deren Einwilligung nur die Angehörigen beurteilen können. Genau in diesen Punkten, so der NVVE, müsse „die Diskussion wiederbelebt und der Streit in aller Öffentlichkeit fortgesetzt werden“.