Argentinien: Gott im Himmel - auf Erden das Meer

■ Vier Jahre nach dem Zusammenbruch ihrer Diktatur melden die Militärs Ansprüche an: mit Demonstrationen, Bomben und Putschdrohungen / Innenminister erwog Amnestie für verurteilte Militärs / Alfonsin will Menschenrechtsverletzungen verfolgen, aber zwischen Befehlshabern und Befehlsempfängern unterscheiden

Aus Buenos Aires Gaby Weber

In der Kirche „del Socorro“ findet eine Messe zum Gedenken der getöteten Polizisten und Militärs statt - in Szene gesetzt von FAMUS, den „Familienangehörigen und Freunden der von der Subversion Getöteten“. Wenige Tage zuvor hatte FAMUS in groß aufgemachten Zeitungsanzeigen zur Totenmesse geladen und vor „der Rache, die im Gewand der Justiz daherkommt“, gewarnt. Unter den 1.500 Teilnehmern sind die Witwe des vor kurzem rechtskräftig zu lebenslänglich verurteilten Ex–Juntamitgliedes Videla und zahlreiche Offiziere in Uniform. Nach der Nationalhymne erschallen Sprechchöre wie „Es lebe Camps“, „Is lebe Videla“ und „Nieder mit den bolschewistischen Gerichten“. Am Kirchenausgang verteilt eine „Polizeibewegung von Buenos Aires“ Flugblätter, in denen zur „Bildung von Todesschwadronen“ aufgerufen wird, um „den Dreck zu vernichten“. Die Todesschwadronen scheinen wieder in Aktion - diesmal vom Untergrund aus. In den letzten vier Wochen kam es zu einer Welle von Attentaten: Schüsse auf das KP–Büro, falsche Alarme und Morddrohungen (unter anderem gegen Wirtschaftsminister Sourrouille). Dem Präsidenten des Bundesgerichts wurde ein Sprengsatz vor die Haustür gelegt, und wenige Tage später starb die Ehefrau eines Strafverteidigers bei einem Bombenanschlag. Selbst vor dem Sitz des Generalstabschefs des Heeres explodierte ein Sprengkörper, das Attentat gegen den Vertrauten Alfonsins war in Flugblättern so begründet worden: „Nein zur Kapitulation, wir kämpfen weiter für unsere Kameraden“. Daß sich die Militärs mit Bomben einen Machtkampf mit der gewählten Zivilregierung erlauben, hatte noch vor wenigen Monaten niemand erwartet. Mit dem Ende Dezember verabschiedeten „Schlußpunktgesetz“ sollten die Militärs befriedet werden. In diesem Gesetz war eine Frist bis zum 22. Februar 1987 gesetzt worden; Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit der Diktatur 1976–1983, die danach eingeklagt werden, sollen nicht mehr verfolgt werden. Innerhalb der beiden Sommermonate, so hatte man wohl kalkuliert, kämen vielleicht 30 bis 40 neue Anklagen zusammen, genug für eine kosmetische Säuberung und nicht zuviel für die Wiedereingliederung der Militärs in die bürgerliche Gesellschaft. Doch Alfonsin hatte seine Rechnung ohne den Wirt, sprich die Justiz gemacht. Die Richter hoben kurzerhand die Gerichtsferien auf, arbeiteten die Nächte durch und hatten am Ende der Frist immerhin 216 neue Anklagen zustande gebracht. Für die „Mütter der Plaza de Mayo“ ist das „lächerlich, weil die große Mehrzahl der Mörder nicht belangt wird“. Von den Angeklagten sind viele im aktiven Dienst, und auch niedrige Ränge hat es erwischt, die bisher noch vom rechtfertigenden „Befehlsnotstand“ träumten. Diese Leutnants und Majore mobilisieren jetzt ihre Waffenbrüder in den Kasernen. In etwa 50 Fällen haben die Gerichte Untersuchungshaft angeordnet und Aussageverweigerung mit Gefängnis quittiert. Was den Richtern zusätzliche Munition verschafft: Der General im Ruhestand Acdel Vilas singt zur Zeit wie ein Vogel, in über 100 Stunden Vernehmung hat er detaillierte Angaben über den sogenannten „schmutzigen Krieg“ seiner Kameraden gemacht. Am 3. März, also keine zwei Wochen nach Ablauf der Verfolgungsfrist, hatte der Vizeadmiral Ramon Arosa erklärt, daß die Marine „niemanden aufgibt oder geringschätzt, der in der schwierigen Situation des Krieges gegen die Subversion seine Pflicht erfüllt hat“. Zwei Tage später versuchte der Generalstabschef des Heeres, Rios Erenu, zu beschwichtigen: Es sei „kein Widerspruch, den anti–subversiven Krieg zu befürworten und gleichzeitig einige Verurteilungen zu akzeptieren“. Am 11. März konterte General Juan Sasiain, die heutigen Zeugen seien größtenteils ehemalige Terroristen: „Ideologen, Initiatoren und Organisatoren der Subversion, die sich jetzt den Luxus leisten, bei den Richtern anzugeben, wer zu verurteilen ist.“ Am selben Tag erklärte das Marinezentrum, daß die Streitkräfte insgesamt als Institution angegriffen werden und daß die Zuständigkeit in diesen Verfahren daher bei der Militärjustiz liege. FAMUS leistete öffentlichkeitswirksame Schützenhilfe. Sie organisierte Solidaritätskundge bungen vor Gefängnissen, wo Militärs einsitzen, und einen Tag nach ihrer Totenmesse für die „gefallen Helden“ zogen sie auf die Plaza de Mayo, wo gerade die Mütter der Verschwundenen ihre Runden drehten. Mit Rufen, „Es lebe Camps und Videla“, warfen sie sich auf die Knie und beteten. Auf ihren Transparenten flehten sie: „Gott im Himmel, Argentinien trägt auf Erden in seinem Herzen das siegreiche Heer.“ Noch während Bundespräsident Weizsäcker auf Staatsbesuch weilte, traf am 18. März Alfonsin mit Innenminister Antonio Troccoli und Verteidigungsminister Horacio Jaunarena zu einer Notstandssitzung zusammen. Um einen drohenden Putsch zu vereiteln, stellte der Innenminister folgende Möglichkeiten zur Disposition: Einzelbegnadigungen, Generalamnestie und eine - die Regierung nicht bindende - Volksbefragung. Der Verteidigungsminister lehnte Zeitungsberichten zufolge die Amnestie ab, diese wäre ein demokratischer Kniefall vor dem militärischen Establishment und eine Einladung zum Putsch. Ende März fand Alfonsin in seiner Rede von Perdices starke Worte: Die Subversionsbekämpfung wäre auch mit rechtsstaatlichen Mitteln erfolgreich gewesen, und diejenigen, die sich heute als „Kämpfer gegen die Subversion“ feiern und gleichzeitig Bomben legen, seien „die ewigen Nazis“. Die parlamentarische Opposition der Peronisten (benannt nach General Peron, langjähriger populistischer Staatschef Argentiniens) klatschte ihm Beifall. Und um das republikanische Lager gegenüber dem militärischen zu stärken, hat sich Alfonsin jetzt für einen Sozialpakt entschieden. Ende März berief er einen Peronisten in sein Kabinett: Carlos Alderete, Chef der unternehmerfreundlichen Gewerkschaft der Elektrizitätswerker. Und an die Adresse der Generäle richtete er ein Friedensangebot: Vor Gericht würde unterschieden werden zwischen denjenigen, die die Befehle gaben, denjenigen, die über die Befehle hinausgehend „Exzesse“ verübten, und denjenigen, die notgedrungen Befehle ausgeführt haben. Von der Justiz erwarte er, so Alfonsin, „Objektivität“, und vom Papst, daß er für den Frieden und die Aussöhnung bete.