Zur Freiheit verurteilt

Der junge Franzose ist auf Abenteuer aus. Er ist Stipendiat des Institut Franais in Berlin. Hitler hat soeben die Macht ergriffen. Der junge Mann, der hinter dicken Brillengläsern hervor auf dem Ku– Damm Ausschau hält, ist von Hitlers baldigem Scheitern überzeugt. Die Abenteuer interessieren ihn im Augenblick mehr als Politik. Wenn es glückt, nimmt er das Abenteuer mit in sein Hotel. Er haßt die feste Bleibe. Einen Großteil seines Lebens wird er in Hotels zubringen. Seine erste eigene Wohnung wird er im Alter von 41 Jahren in Paris beziehen, nach dem Krieg, in der Rue Bonaparte. Dann wird er berühmt sein und neben Jaspers, Heidegger und Albert Camus als Vertreter einer neuen Philosophie und Lebensweise genannt. Gott ist wieder einmal endgültig tot. Halb Europa ist zerstört, Deutschland sortiert seine Trümmer. Es gibt keinen göttlichen Plan für das menschliche Geschick. Der Mensch muß sich durch seine Handlungen selbst erfinden, sich selbst entwerfen. Er ist zur Freiheit verurteilt. Eine Garantie gibt es nicht. Diese Überzeugungen, diese Parolen Sartres werden in den fünfziger Jahren zur Wahrheit vieler junger Menschen, die behaupten, auf die Häuschen zu pfeifen, die die Eltern nach dem Kriege wiederaufgebaut haben. Der Mensch ist, was er aus sich macht und nicht, was die anderen aus ihm machen. Viele Jugendliche lassen ihre Haare lang wachsen, ziehen sich schwarz an, tragen Langeweile und Ekel in stummen Protesten zur Schau. Sartres Philosophie, vor allem aber seine Theaterstücke wirkten zuallererst nur als Anstoß, als Aufforderung: Nun fangt mal was Neues an! Das war gar nicht so einfach in einem Nachkriegsdeutschland, das von Adenauer, dem Kalten Krieg, dem Wiederaufbau und dem Schweigen über die eigene deutsche Geschichte bestimmt war. Mit seiner Forderung, jedes Subjekt habe seine Freiheit selbst zu erkämpfen, trug Sartre entscheidend dazu bei, sich mit sich, seinen Eltern und der Geschichte der Eltern zu beschäftigen, die in einem selbst fortdauert. Dann gibt es einen Bruch in der Sartre–Rezeption. Zwar haben kleine Gruppen Sartre in seinem Kampf um die Befreiung Algeriens unterstützt, einer größeren Öffentlichkeit wurde Sartre, diesmal als der politische Sartre, erst wieder durch sein Engagement während der Mai–Unruhen in Frankreich bekannt, dann durch das Russel–Tribunal, auf dem die Kriegsverbrechen von Amerikanern in Vietnam veröffentlicht wurden und schließlich, als er die Isolationshaft der „Baader–Meinhof–Gruppe“ kritisierte und noch kurz vor seinem Tod den Gefängnistrakt in Stammheim aufsuchte. Seitdem ist Sartre in Deutschland vor allem als Mann der Politik bekannt; dabei haben er und seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir ihre philosophischen und literarischen Arbeiten bis in den Krieg hinein eher zurückgezogen und apolitisch betrieben. Erst die Erfahrungen während der Nazi– Zeit und der Resistance veranlaßten sie, fast vierzigjährig, zu einer Verbindung von Schreiben und politischer Aktion. Vielleicht erlaubte ihnen gerade dieses späte Engagement eine Sicherheit im Umgang mit den Massenmedien, die sie und ihre politische Wirkung von deutschen Intellektuellen unterscheidet. Von alledem war an den Tagen des Kongresses kaum die Rede - auch nicht davon, daß Sartre für viele junge Leser in Deutschland, offenbar durch die gegenwärtige politische Situation und nicht zuletzt durch die Katastrophe in Tschernobyl, eine neue aktuelle Bedeutung gewonnen hat. Ob die Auseinandersetzungen zwischen den Theoretikern einer kommunikativen Kompetenz, Sartre–Kennern, Strukturalisten und Postmodernen fruchtbar war, die unter der sympathisch–behutsamen Leitung von J. Habermas nicht stattfand, wird sich noch zeigen.