Ein Mythos Argentiniens zerfällt

■ Die gefeierten „Mütter“ der Verschwundenen in Argentinien stehen heute allein / Die Argentinier haben von der Vergangenheitsbewältigung genug Obwohl die Mütter in ihrer Kritik an der Regierung Recht behielten, führte ihre Politik an den Rand des Sektierertums / Heute sind die Mütter gespalten

Aus Buenos Aires Gaby Weber

Auf der „Plaza de Mayo“ drehen etwa 50 alte Frauen langsam ihre Runden. Sie tragen weiße Kopftücher und werden von einigen Freunden begleitet. Es sind die Mütter der „Plaza de Mayo“, die seit über zehn Jahren jeden Donnerstag nachmittag vor der „Casa Rosada“ (Rosa Haus), dem Sitz des Staatspräsidenten, Aufklärung über das Schicksal ihrer Kinder fordern, die während der Militärdiktatur verhaftet worden waren und seitdem als verschwunden gelten. Doch heute werden die weltberühmten Mütter von den Passanten kaum beachtet, was nicht nur am unfreundlichen Wetter liegt. Die kämpferischen Mütter, die einst als das „Gewissen der Nation“ gepriesen wurden (so der argentinische Schriftsteller Osvaldo Bayer), werden inzwischen aus dem Gewissen der Nation verdrängt. Ende Juni hatte der Oberste Gerichtshof des Landes das Gesetz über den „geschuldeten Gehorsam“ für verfassungskonform erklärt und über 180 inhaftierte Folterer auf freien Fuß gesetzt. Durch die argentinische Öffentlichkeit ging kein Aufschrei darüber, daß nun die Mörder samt ihren Waffen auf ihre alten Posten zurückkehrten. Hatten die Madres vor einem halben Jahr immerhin noch 70.000 Leute auf die Beine gebracht, demonstrierten in der Zehn–Millionen–Stadt jetzt nur noch 8.000. Mit Achselzucken zur Kenntnis genommen wurden 14 Bombenanschläge gegen Büros der Regierungspartei und die Attentate gegen Richter, die Angehörige der Streitkräfte hinter Gitter gebracht hatten. Und keine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens wies den Oberbefehlshaber des Heeres in seine Schranken, als er verkündete: „Nach den Wahlen im September“ - so General Jose Caridi - „steht die Amnestie und die Rechtfertigung des schmutzigen Krieges auf der Tagesordnung“. Die Argentinier wollen wieder normal leben „Das Land, die Argentinier, haben es satt, über die Militärs zu reden“ - kommentierte das Nachrichtenmagazin Expreso - „sie wollen wieder mit einem normalen Leben beginnen, und sie wollen, daß die Streitkräfte Grenzen und Meere sichern und von den Titelseiten der Zeitungen verschwinden“. Mit ihnen sollen auch die „Mütter“ verschwinden, die durch ihr regelmäßiges Auftauchen im Stadtzentrum bei der Verdrängung der Vergangenheit lästig sind. „Die Madres sind gescheitert“, so Rolando Grana von der linken Zeitschrift Porteno, „sie waren nicht in der Lage, von einer moralischen Instanz zu einer politischen zu werden“. Ihr Ziel, die Mörder ihrer Kinder zu bestrafen, konnten sie nicht durchsetzen. Das lag jedoch nicht nur an ihrem Mangel an politischen Erfahrungen. „30.000 Verschwundene - das ist eine ganze Generation, die in der heutigen politischen Szene fehlt“, erklärt Emilio Mignone, Direktor der Menschenrechtsorganisation CELS. Am 30. April 1977, ein Jahr nach dem Militärputsch, waren die Madres zum ersten Mal auf der Plaza de Mayo mit ihren weißen Kopftüchern und den Photos ihrer entführten Kinder aufgetaucht. „Wir wollten damit eine Audienz beim Kommandanten, General Videla, erreichen“ - erinnert sich Renee Epelbaum, eine der 20 Gründerinnen - „um ihn nach dem Verbleib unserer Kinder zu fragen“. Die Audienz wurde ihnen natürlich nie gewährt, und aus den naiven Bittstellerinnen wurden schließlich unbequeme Störenfriede, aus ihren Donnerstagsrunden Protestdemonstrationen. Sie mitten im Stadtzentrum niederzuknüppeln, empfanden die Militärs als unfein. Sie waren zwar in ihren Augen „Terroristen–Mütter“, doch trotzdem Mütter: alte Frauen, ohne Waffen, vom Schicksal gezeichnet, die die Hilflosigkeit auf die Straße getrieben hatte. Unter ihren weißen Kopftücher waren faltige Gesichter und graue Haare. „La Madre“ - das ist ein Mythos, der in den Tangos besungen wird; unmöglich, öffentlich die Hand oder gar ein Gewehr gegen sie zu erheben. Die Militärs versuchten, das Problem auf ihre Art aus der Welt zu schaffen: Ende 1977 entführten sie die Initiatorin der Donnerstagsrunden, Azucena Devincenti, die wahrscheinlich in dem berüchtigtsten Folterzentrum, in der Mechanikerschule der Marine, ermordet wurde. Doch dieser Versuch der Militärs, die Mütter ihrer Führung zu berauben, vertrieb die Madres nicht von der Plaza de Mayo. Sie blieben jahrelang der einzige sichtbare Widerstand gegen die Generäle. Die Gewerkschaftsbewegung ließ sich nicht blicken. Nach dem Malwinen–Krieg wurden die Mütter gefeiert Obwohl die Hälfte der Verschwundenen Arbeiter waren, gab es in Argentinien nie eine Verbindung zwischen der Menschenrechtsbewegung und den Gewerkschaften. Die von den Peronisten dominierte Gewerkschaftsbürokratie hatte mit den Putschisten gemeinsame Sache gemacht. Während der gesamten Diktatur gab es nur drei Streiks wegen Lohnforderungen. Der CGT–Funktionär Alberto Triaca hatte sogar vor Gericht ausgesagt, daß es Folter und Mord sowie die Unterdrückung von gewerkschaftlichen Aktivitäten in Argentinien nicht gäbe. Nachdem die militärische Niederlage im Malwinenkrieg den Rückzug der Militärs eingeläutet hatte, feierten die Argentinier diese mutigen Frauen, um die sie vorher aus Angst einen Bogen gemacht hatten. Jetzt kamen die Menschen mit Bewunderung auf sie zu und drehten mit ihnen die Runden auf der Plaza. Die Diskussionen über das Thema Menschenrechte nahm einen Aufschwung, als 1983 eine gewählte Zivilregierung die Macht übernahm. Raul Alfonsin, Gründungsmitglied der „Ständigen Versammlung für Menschenrechte“, wollte sich selbst an die Spitze der Bewegung setzen. Und dabei waren ihm die Mütter auf der Plaza de Mayo im Weg. Er setzte die CONADEP ein, eine Kommission, die aus dem Schriftsteller Ernesto Sabato und mehreren bekannten Persönlichkeiten bestand, die die Menschenrechtsverletzungen untersuchen sollten. Die Madres hatten kein Vertrauen in diese Kommission, pochten auf einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß und lehnten CONADEP kategorisch ab: „Die Menschenrechtsproblematik mit dieser Kommission angehen zu wollen ist, als ob wir die Auslandsverschuldung in der Grotte von Lourdes lösen wollten“. Doch die rigorose Ablehnung von CONADEP sei ihr erster großer Irrtum gewesen, mit dem sie ihre eigene Isolierung betrieben hätten, meint heute der Journalist Rolando Grana, „das ging soweit, daß jeder, der dort mitmachte, als Verräter beschimpft wurde“. Dem Druck der Madres gab auch der Nobelpreisträger Adolfo Perez Esquivel nach, und lehnte die angebotene Mitgliedschaft in CONADEP ab. Alfonsin sei ein „Beschützer der Massenmörder und Folterer“, erklärten die Madres seit seinem Amtsantritt, seiner Justiz dürfe man nicht trauen. In der Bevölkerung aber glaubte man damals an die Versprechungen des Landesvaters; die pessimistischen Prophezeiungen der Maiplatz–Mütter lösten Verwirrung aus. Die beschimpfte CONADEP bemühte sich aufrichtig, das Ausmaß der Verbrechen der Militärs darzustellen. Zum er sten Mal konnten Konzentrationslager besichtigt und Zeugenaussagen systematisch ausgewertet werden. Der Abschlußbericht von CONADEP unter dem Titel „Nunca mas“ (nie wieder) schlug in die argentinische Gesellschaft wie eine Bombe ein. Und Alfonsin ließ ja auch die früheren Junta– Kommandanten vor Gericht stellen, die zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Die Mütter verlieren an Boden Durch die Initiative von oben verloren die Mütter zunehmend Boden unter den Füßen. Von Alfonsin wurden sie als „anti–national“ gebrandmarkt und vom Gewerkschaftsdachverband CGT mit Fußtritten vor die Tür gesetzt. In konservativen Kreisen nahm man es ihnen übel, daß sie keine Ruhe gaben und auch von der demokratischen Regierung die Wiederkehr ihrer entführten Kinder forderten, statt sich endlich mit ihrem Tod abzufinden. Je mehr ihr Mythos im eigenen Lande zerbrach, desto häufiger holten sie sich im europäischen Ausland ihre Anerkennung. Sie füllten die Hörsäle der Universitä ten, wurden von internationalen Organisationen eingeladen und herumgereicht, Staatschefs empfingen sie, und selbst der Papst ließ sie in seine Gemächer. Doch was die Madres jahrelang gepredigt hatten - daß Alfonsin sein Volk belüge und betrüge - bewahrheitete sich nachträglich: Nachdem der Präsident während der Osterrebellion über eine Million Menschen zur Verteidigung der Demokratie auf die Plaza de Mayo gerufen und jede Verhandlung mit den aufständischen Offizieren ausgeschlossen hatte, gab er schon zwei Monate später dem militärischen Druck nach und verabschiedete das Gesetz über den „geschuldeten Gehorsam“. Er tat genau das, was die Mütter stets behauptet hatten; doch ein politischer Sieg wurde es für sie nicht, sie gerieten weiter ins Abseits. Inhaltliche Differenzen brechen auf Inzwischen haben sich etwa die Hälfte der Madres von der Präsidentin, Hebe Bonafini, getrennt und eine eigene „Linie der Gründerinnen“ ins Leben gerufen. Hauptsächlich aus persönlichen Gründen, heißt es. „Hebe ist wenig demokratisch und benutzt die Institution wie ihr Privateigentum“, sagt die Dissidentin Renee Epelbaum. Die Donnerstags– Runden auf der Plaza de Mayo werden noch gemeinsam absolviert, allerdings ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Es geht aber auch um inhaltliche Differenzen: „Auch wir haben kein Vertrauen in die Justiz unseres Landes“ - so Renee Epelbaum - aber durch Ermittlungen seien schließlich viele Dinge herausgekommen. Die „Gründerinnen“ seien nicht grundsätzlich gegen die richterlich angeordnete Exhumierung der Leichen, um die Ermittlungen nicht zu behindern. Die Gruppe um Hebe Bonafini hingegen stellt sich auf den Standpunkt: „Bevor man uns sagt, daß unsere Kinder tot sind, soll man uns sagen, wer sie ermordet hat und die Schuldigen bestrafen“. Als Hebe Bonafini in einer Veranstaltung den Papst als „Schwein“ bezeichnete, empörten sich nicht nur viele der Mütter. Die Hilfsdienste des Vatikans für die Militärs, so die Kritiker, müßten konkret benannt werden, in einem stock–katholischen Land wie Argentinien würde man mit solchen Beschimpfungen nicht aufklären, sondern abschrecken. Unterschiedliche Meinungen bestehen unter den Müttern auch über ein vor kurzem verabschiedetes Gesetz, nach dem die Kinder der Verschwundenen bis zum 21. Lebensjahr eine Art Waisenrente erhalten. „Es gibt Armut in diesem Land, die Eltern hätten sicher nicht gewollt, daß ihre Kinder hungern“ - so begründet Renee Epelbaum ihre Unterstützung für das Gesetz. Hebe Bonafini, die sich als einzige legitime Vertreterin der Madres sieht, lehnt das Projekt als „Beleidigung“ ab; die Entschädigung sei der Versuch Alfonsins, das Schweigen über die Verbrechen zu erkaufen. Eine Diskussion über den Zustand der Mütter findet in Buenos Aires nicht statt. Für die konservativen Blätter existieren die Madres nicht, und für die linke Publizistik ist Kritik an ihnen ein Tabu. „Wer viel leidet, hat noch lange nicht recht; wir wissen alle, daß die Madres im Irrtum sind, aber niemand kann es aussprechen“, sagt Rolando Grana der ausländischen Kollegin. Seine Redaktion beschloß einstimmig, eine geplante Veröffentlichung über die Mütter wieder in den Papierkorb zu werfen: „Wenn die Militärs wieder mit ihren Säbeln rasseln, können wir doch nicht unseren Müttern ihre Fehler vorrechnen.“