Die ganze Wahrheit muß weiter warten

■ In seiner Rede hat Gorbatschow die Rehabilitierung der Opfer Stalins auf eine Kommission geschoben

„Die schlimmen politischen Fehler Stalins und seiner Mitarbeiter waren schwerwiegend und unverzeihlich“, sagte Michail Gorbatschow in seiner Rede zur Eröffnung der Feierlichkeiten der Oktoberrevolution in Moskau. „Dadurch wurden sowohl der Personenkult wie auch Verletzungen der Gesetzlichkeit sowie Willkür und Repressionen der dreißiger Jahre möglich“, fuhr Gorbatschow fort. Die Stalinperiode habe empfindliche Verluste für die Weiterentwicklung der Gesellschaft eingebracht und ein administratives Befehlssystem der Partei– und Staatsleitung entstehen lassen, den Bürokratismus, vor dem Lenin einst eindringlich gewarnt habe. Entgegen der lange in der Sowjetunion gültigen Meinung, daß Stalin nichts von den Repressionen gewußt habe, stellte Gorbatschow klar, daß der Diktator über alle Unterdrückungsmaßnahmen informiert war. Doch dürfe die Leistung Stalins während des zweiten Weltkrieges nicht unterschätzt werden. Mit „Ausdauer und Zähigkeit“ habe er ein „hohes Vermögen“ gezeigt, die Menschen in der Sowjetunion zu mobilisieren und den Krieg siegreich zu beenden. „Die Jahre des Krieges gehörten zu den ruhmreichsten des Landes.“ Gorbatschow verteidigte in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Stalin–Hitler–Pakt von 1939, der in einer geschichtlichen Situation von „Tod und Überleben“ abgeschlossen worden sei. Die Sowjetunion habe damals den Westmächten vorgeschlagen, durch ein kollektives Sicherheitssystem den Frieden zu retten, habe aber keine Antwort bekommen. Angesichts der Bedrohung durch die „imperialistische Aggression“ habe man dann keinen anderen Weg wählen können, erklärte der Parteichef. In der Industrialisierung und Kollekti vierung der Landwirtschaft Anfang der dreißiger Jahre - die zu Millionen von Opfern unter den Bauern, vor allem den sogenannten Kulaken (Großbauern), geführt hatten - sieht Gorbatschow die Grundlegung der „sozialistischen Wirtschaft“, wie sie heute in der Sowjetunion besteht. Die Kollektivierung habe das soziale Fundament für die Modernisierung des Agrarsektors geschaffen. Allerdings sei es damals zu „Überspitzungen“ gekommen, nicht nur bei den „Kulaken, sondern auch ein Teil der mittleren Bauern“ sei bekämpft worden. Auch heute gebe es noch Bestrebungen, „sich von den schmerzhaften Problemen unserer Geschichte abzuwenden und ... glauben zu machen, daß nichts Besonderes geschehen sei. Wir können dies nicht billigen“, fuhr der Parteichef fort. Ein Verschweigen wäre „eine Mißachtung der historischen Wahrheit und des Andenkens derer, die unschuldige Opfer dieser gesetzlosen und willkürlichen Handlungen geworden sind“. Wer nun unter den sechstausend Zuhörern im Kreml - Mitglieder des ZK und des Obersten Sowjets sowie ausländische Gäste - auf die Rehabilitierung der alten Gestalten der Revolution gewartet hatte, sah sich getäuscht. Gorbatschow nannte wohl zum ersten Mal bei einem solch offiziellen Anlaß zwar die Namen Trotzki, Kamenew, Sinowjew und Bucharin, die, als Mit– und Gegenspieler Stalins in den Zwanziger Jahren, dann ab 1936 zum Tode verurteilt oder ermordet wurden. Er kritisierte jedoch deren Politik mit den alt bekannten offiziellen Positionen. Trotzkis Politik habe sich gegen den Sozialismus gerichtet und habe den Leninismus an allen Fronten angegriffen, erklärte der Parteichef. Die Trotzkisten hätten sich mit der sogenannten „Neuen Opposition“ um Sinowjew und Kamenew zusammengetan und versucht, die Partei zu spalten. Dem führenden Kern der Partei unter Einschluß Stalins sei es zu danken, daß sie den „Leninismus im offiziellen Streit verteidigt haben“. Die Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus solle jedoch fortgesetzt werden. Das Politbüro habe eine entsprechende Kommission zur Prüfung dieser Fragen eingesetzt. Ein weiterer Ausschuß des Zentralkomitees der KPdSU werde außerdem einen Abriß der Geschichte vorbereiten, der sich mit den Fragen des Stalinismus befasse. Ausdrücklich würdigte Gorbatschow die Rolle des StalinNachfolgers Chruschtschow, der nicht „wenig Mut“ bewiesen habe, „die Repressionen Stalins zu verurteilen“. Jedoch habe es in dieser Zeit auch „subjektivistische Fehler“ und „willkürliches Vorgehen“ seitens der Parteispitze gegeben. Dagegen habe dessen Nachfolger Breschnew durch das Festhalten an den gewohnten Schemata den neuen Realitäten nicht Rechnung tragen können, während es in der Außenpolitik auch in jener Zeit positive Ansätze gegeben habe. Auf die seit seiner Wahl zum Parteichef in Angriff genommenen Wirtschaftsreformen eingehend, betonte Gorbatschow die Notwendigkeit, vom „überzentralisierten Kommandosystem“ zu einem demokratischen System überzugehen. Gleichzeitig beklagte er, daß „konservative Kräfte“ den Widerstand gegen diese Politik intensiviert hätten. Möglicherweise auf die Affäre um den Parteichef Moskaus Jelzin anspielend, erklärte er, daß man auch nicht denjenigen Kräften nachgeben dürfe, die zu ungeduldig seien. E. Rathfelder