Ein Sozialist gibt keine Almosen

■ In einem Interview mit 'Transatlantik‘ zeigt sich Heiner Müller einmal mehr in Hochform

Es gibt Leute, denen geht nach Staatspreisen (Ost) und Werkschauen (West) der Heiner-Müller-Rummel langsam auf die Nerven - aber wer solche Antworten parat hat wie Heiner Müller im Gespräch mit Frank Raddatz (über Luxus, Laster und Genuß), um den kann es gar nicht genug Rummel geben:

Läßt sich die Fähigkeit zum Genuß unabhängig von politischen Systemen, unabhängig vom Geld diskutieren?

Heiner Müller: Man merkt die Ausweglosigkeit einer solchen Debatte schon daran, daß in diesem Hotel, also dem West -Berliner Interconti, für eine Monte Christo Nr.1 - eine sehr gute Zigarre - auf einen goldenen Pappteller ein Zigarrenabschneider hingelegt wird, der überhaupt nicht geeignet ist zum Abschneiden von Havannas, weil er nämlich einen Kerbschnitt macht statt eines glatten Schnitts. Das ist die nackte Barbarei (...)

In der DDR gibt es eine Reihe von Luxushotels. Sind das Anfänge einer sozialistischen Genußkultur?

Ach, da geht es eigentlich nur um Geld - um das Geldeinkommen und Devisen abzuschöpfen. Viel wichtiger ist die Dialektik von Genuß und Revolution. In New York habe ich den Coca-Cola-Generalvertreter für Indien kennengelernt. Er definiert sich als orthodoxen Marxisten. Wenn man ihn auf diesen scheinbaren Widerspruch anspricht (...), dann sagt er, daß er seine Geschäfte gründlich betreiben muß, weil er gerade als Marxist weiß, daß die Revolution in Indien keine Chance hat, bevor den Indern die Coca-Cola aus den Ohren quillt. Der Verkauf von Coca-Cola ist so gesehen Arbeit an der Weltrevolution.

Ist es nicht ein sehr gebrochener Genuß, im Nobelrestaurant zu sitzen und vor der Tür die Penner zu sehen?

(...) es (wäre) wirklich ein revolutionärer Akt, wenn die Leute daraus Genuß beziehen würden, daß draußen Leute sitzen, die nichts zu fressen haben. Wenn die Leute sich das voll bewußt machen, wäre es ein revolutionärer Akt. Dann gäbe es irgendwann den Schatten einer Chance, daß diese Penner allmählich so sauer werden, daß sie etwas tun. Das erste Gebot des Marxismus lautet: „Ein Sozialist gibt keine Almosen.“ Ein Sozialist sollte demjenigen, der hungert, seinen Hunger bewußt machen, indem er ihm vorißt und nichts abgibt.

Muß der Revolutionäre mehr in den Lastern zu Hause sein als in der Gesellschaftstheorie?

(...) Nach der kubanischen Revolution sind die Zigarren schlagartig schlechter geworden, weil die Bedingungen der Sklaverei nicht mehr gegeben sind. Überhaupt führt die Befreiung von der krassen physischen Ausbeutung in den sozialistischen Ländern zu einer Niveausenkung bei Luxusgütern. Luxus braucht Barbarei.

Krasse physische Ausbeutung wird ohnehin mehr durch Maschinen ersetzt (...)

(...) Robert Wilson erzählte mir von einer Einrichtung in Japan, wo die Angestellten nach Dienstschluß mit ihren Aktenkoffern vor Schaltern Schlange stehen, an denen man für umgerechnet fünf Mark nichts anderes macht als - so schön amerikanisch formuliert - „to eat pussy“ (...) Die totale Mechanisierung aller Abläufe löst Angst aus, und mit Angst kann man auf Dauer nur umgehen, wenn man sie annimmt und Lust daraus bezieht (...)

Ist das nicht ein Verlust an Menschlichkeit?

Das darf man nicht so eingrenzen. Es ist doch durchaus eine Zukunft denkbar, in der der Mensch, so, wie er jetzt organisch konstruiert ist, gar nicht mehr lebensfähig ist. Bei der Luft und dem verwüsteten Ökosystem, die auf uns zukommen, ist vielleicht nur eine Kombination von Mensch und Maschine lebensfähig. Das ist dann fast schon ein technologischer Weg zur Unsterblichkeit, vielleicht der einzige. Auch die Entwicklung der Raumfahrt wird so etwas hervorbringen. Denn bestimmte Entfernungen und Zeiträume wird kein menschlicher oder irdischer Organismus aushalten. Also muß man eine Kombination von Mensch und Maschine entwickeln, leicht verwesliche oder zerstörbare Teile werden durch technische Installationen ersetzt. Der Mensch muß also immer wieder neu definiert werden. Niemandem mit einem Herzschrittmacher würde man seine Menschlichkeit absprechen (...)

Der Genuß garantiert das Überleben?

Weiß ich nicht. Es gibt ja Experimente mit Affen, bei denen das Lustzentrum gereizt wird. Aber wenn man bei den Laboraffen ständig das Lustzentrum reizt, dann verhungern sie. Die sterben dann fröhlich wichsend und rühren keine Banane an. Wer will behaupten, daß das kein schöner Tod ist? Ich weiß es nicht, ich bin kein Affe.

Soweit ein paar kleine Auszüge aus dem langen Gespräch, in dem es unter anderem noch um Kleists Genuß des Selbstmords, Brecht in der Peep-Show und den Unterschied zwischen Onanie und einer Fahrt in der U-Bahn geht. Außerdem in 'Transatlantik‘ zum Thema Genuß: Beiträge über Suppenphilosophie, Schokolade, Kunst des Beischlafs, Mariacron und Marihuana (Heft 3/1988, 8 DM).