Sommer 88: Kultur Berlin

Auch im gekachelten U-Bahnhof keine Kühle mehr. Die Züge schieben warme Luftklötze durch die Röhren. Trüb lockt der BZ-Titel hinterm Kioskglas: Drück mich unter Wasser Badewannen-Sterbehilfe. Mineralwasser, eine gute Idee. Ham wa nich, tönt es hinter den Stapeln. Zug da, die Türen rattern auf, Buttersäurewolken, Fluch über den Erfinder des Polyesteroberhemds. Das ist mein Crreeee-dooh, schreit ein Lavendelsperrfeuer über die Sitzbänke. Kackbraune Freibad –Kinder kleben in den blauen Polstern, Spiegelbrillen, Rhythmusbrei aus mindestens fünf Walkmännern. Die Stationsansage hängt einen Bahnhof hinterher, aufspringen, schnell raus. Aufstieg, einem zermanschten Pfirsich ausweichen. Hier oben fällt die Luft doppelt schwer ins bronchiale Astwerk, hellgelb bröselt Hundekot auf dem Pflaster vor sich hin, daneben Leuchtfarbe von zerlaufenem Wassereis. Über dem Gummiabrieb sirren Abgase, sauber blinken Windschutzscheiben herüber. Vorm Discount schwitzen Hollandgurken in ihren Plastiküberzügen. Auf die kalkweißen Beine meines Vordermannes fällt orangefarbenes Licht, Sonnenschutzfolie am Schaufenster eines Papierladens. Ein KOB in Sommeruniform tritt aus dem Haushaltswarenshop. Handschellen pendeln überm Arsch. Ein Graukittel-Inhaber folgt ihm, weist stolz dem Hüter den Weg. Syphon-Patronen ganz sicher drüben bei Karstadt. Imbiß. Schwarzschillernd an der Decke eine Fliegenfalle. Das Mineralwasser erweist sich als Zitronenbrause. In den Gesichtern rundum steht schon Gewitter.

Hans-Hermann Kotte

Eine neue Methode zur störungsfreien Überquerung von stark befahrenen Kreuzungen auf dem Schulweg wird jetzt in Charlottenburg ausgetestet. Nachdem die Schülerlotsen wegen ihrer Lohnforderungen entlasssen werden mußten und sich Untertunnelungen zu oft als unkontrollierte Orte außerschulischer Sexualkunde erwiesen haben, könnte dieser innovative Vorschlag eines Drahtseil-Herstellers richtungsweisend sein. Die Kinder sind bei der Einzelüberführung jederzeit sichtbar und unter Kontrolle; der Verkehr kann ungehindert weiterfließen; außerdem wird sportlicher Ehrgeiz geweckt. Zudem könnte der für die nächsten Jahre prognostizierten erneuten Schülerschwemme und der Wiedereinstellung von Lehrern vorgebeut werden (denn nicht jedes Kind wird die luftige Fahrt bis zum Ende durchstehen).

KBM

VERMISSTENANZEIGE

– Gesucht wird Emily H., die ihren Wagemut teuer bezahlen muß. Fräulein H., auf dem Vormarsch in die männliche Domäne der Kunst, wußte bei ihrem vierten Versuch der Aufnahmeprüfung an die Kunsthochschule endlich, was sie bisher scheitern ließ. „Mir fehlte in meiner Mappe einfach ein Berliner Thema“, sagte die aus Passau gebürtige Studentin. Doch während sie andernorts bei ihrer Freiluftmalerei nur von Kühen und Fliegen beobachtet wurde, scharten sich im Rosengarten gleich mehrere Neugierige um sie. Doch unter deren glühenden Blicken und laut ausposaunten Fachsimpeleien über die Proportionen wurde Emily H. zusehends kleiner, bis sie kaum noch den Pinsel halten konnte. Sie warf einen verschämten Blick über die Schulter und verschwand dann in ihrem Gemälde, die Rosenbüsche zerteilend. Zeugen haben beobachtet, daß daraufhin der dritte Herr von rechts, im hellen Hut, das Bild mitnahm. Nur die leere Staffelei und ein noch feuchter Pinsel blieben von dem tragischen Ereignis zurück. Hinweise auf den Mann, das Bild oder Emily werden erbeten.

KBM

Willi W.betritt den Park. Ohne die dazugehörigen sommerlichen Accessoires, macht er sich auf zur Wiese unterhalb des Schinkel-Denkmals, seinem Arbeitsplatz. Dank seines frühen Erscheinens ergattert er einen schattigen Platz oberhalb des berüchtigten Sonnenbadeparadieses. Jetzt kann seine Arbeit beginnen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen hier auf dem Areal arbeitet Willi mit den Augen. Mit locker aufgeknöpften Hemd und einer selbsttönenden Sonnenbrille begibt er sich in die Horizontale, um sich erst mal im näheren Umfeld zu etablieren.

Jetzt geht es Schlag auf Schlag, und die SonnenanbeterInnen strömen aus allen Richtungen herbei, um sich erneut einen erbitterten Kampf mit dem Feuerball zu liefern. Es ist inzwischen 25 Grad Celsius, und die Schweißperlen stehen Willi auf Stirn und Oberlippe. Er muß aber cool bleiben, um seinen neuangekommenen Klientinnen beim Entkleiden behilflich zu sein. Seine Taktik hierbei ist, den Kopf möglichst in einer Stellung verharren zu lassen. Nur seine Augen hinter der Tönung kreisen unablässig, um ja keine Sonnennixe unbeachtet zu entlassen. An manchen Tagen arbeitet er so angestrengt, daß er mit Augenschmerzen verfrüht den Heimweg antreten muß.

Inzwischen ist die Grillparty voll im Gange, und die Leiber um Willi drehen sich viertelstündlich unter größten Anstrengungen, damit sie am Abend gar sind; so mag er sie am liebsten. Willi selbst hingegen bricht seine Bewegungslosigkeit nur, um seinen Stützarm zu wechseln. Heute hat er Glück, denn er hat die verschiedensten Exemplare in unmittelbarer Arbeitsweite. Sein geschulter Blick schätzt ab, filtert aus, sortiert ein, gerade so, wie sein emotionaler Zustand es will. Unter dieser Hitze und solch einer Reizüberflutung fängt Willi dann oft zu träumen an. Die Stunden verfliegen, die Leiber kroß, und Willi ist immer dabei.

Gegen vier Uhr, wenn die Intensität der Strahlen nachläßt, wandern die ersten geschundenen Opfer ab. Die Anziehprozedur gehört nicht mehr zu Willis Aufgaben. Auch er hat jetzt bald Feierabend. Es war ein guter Tag für ihn. Nur in speziellen Fällen ist er gewillt, Überstunden zu machen.

V. K.

Der Name wurde von der Redaktion geändert.

Ein Dichter soll gesagt haben, man erkenne den Sommer in den Städten am Pissegeruch, der die klebrigen Blütendüfte des Frühlings in einem unmerklichen Übergang, einem Faulwerden der Keime quasi, ablöse. Tatsächlich ergibt sich bei verdampfendem Urin eine Art gesättigter Partikel, dem Blütenstaub nicht unähnlich, auch farblich, die unter Absonderung der signifikanten Süßlichkeit durch die Luft verduften und sich auf den Schleimhäuten ablegen. Sensiblen Heuschnupfern kündigt der Pissegeruch das Ende ihrer saisonalen Pein an und wird so als befreiend und äußerst wohlriechend empfunden.

Vogel

Die Amis befreien wie in den besten Kapitulationszeiten Berliner, Besucher und sich selbst von der hinderlichsten Last, ihrer Nutzlosigkeit. Rent-a-reason. Für ein paar Mark wird „Dallas in Dahlem“ gespielt und der Russe vergessen. Die nächste US-Stadtattrappe wird gestürmt und besetzt, die dritten Zähne am noch blutigen Bar-B-Q-Tierkadaver gewetzt. Doch der Frieden ist leider unvermeidlich, denn dienstfreie GIs, gespickt mit J.-R.-Hüten, und Frauen im neuesten Dolly –Parton-Dirndl prosten bloß mit deutschem Bier zu, was der Dollar hält. Hier und da ein amüsiertes Wiehern an den Buden. Kinder werden durch den staubigen Boden geschleift, gewonnene Blumentöpfe vertrocknen im Wind. Eine US-Army –Einheit ballert (Plüsch-) Tiere von den Wänden, in klebriger Zuckerwatte wird so manche Wespe übersehen. Eimer voller Nieten wollen unters Volk gebracht werden.

Irgendwann sind Familie Müller und Mr. und Mrs. Miller nicht mehr zu unterscheiden, Glasnost hat erbarmungslos zugeschlagen. Dann, wenn alles weggekaut und geschlabbert ist, was Grill und Theke zu bieten haben, ist es meist ein enthemmter Schwung in die Shuttle 2000; beim fidelen Looping –Drehen steigt das Blut in den Kopf, der Mageninhalt kehrt zurück zum Ursprung. Am lauen Abend sind auch diese Brechlachen wieder verdampft; und vor der chinesischen Reispfanne fällt der süß-saure Geruch sowieso nicht auf. Das Toben und Feiern eskaliert in den Bierzelten. US-Kapellen spielen zum feschen Tanz auf, und wir bewundern unsere Befreier über ihren grenzenlosen Mut zur peinlichen Selbstdarstellung. Wir wissen ja noch immer, daß sie die Größten (Idioten) sind.

Connie Kolb

Der Workshop „Mit dem Rums zu neuen Kräften“ der Senatorin für Mutter und Kind erfreut sich auch in diesem Sommer großer Beliebtheit. In der Eroberung eines neuen Bewegungsraums erfährt das Selbstbewußtsein der Frauen eine ungewohnte Stärkung. Die Senatorin: „Die Frauen, die bisher von den Positionen auf Kutschböcken und am Steuer ausgeschlossen waren, lernen hier spielerisch, mit dem Richtungswechsel umzugehen, nach eigenen Entscheidungen rechts oder links zu fahren und selbst bei heftigsten Stößen nicht die Ruhe zu verlieren.“

KBM

ANSONSTEN ...

... finde ich, daß die Kommentierung von Jahreszeiten immer noch Sache der Gemüsehändler ist und nicht die von Journalisten, was letztere leider nicht davon abhält, es immer wieder zu versuchen. Die kläglichen Resultate gehören zu den Freuden des Sommers wie die alljährliche Latino-Afro –Caribo-Arabo-Ethno-Epidemie, ein Telefon, das nicht klingeln will, und Kinos, die riechen wie ein überheiztes Gebrauchtmöbellager. Aber das wird alles bald ein Ende haben, denn dann werden findige Köpfe überall in der Stadt Mikro-Klimazonen einrichten, so, wie sie es jetzt schon in den Kaufhäusern versuchen, und man wird auch im August in aller Ruhe einen Glühwein mit ein paar Freunden trinken können oder Herbstspaziergänge machen, ohne von halbnackten Frisbee-Spielern belästigt zu werden. Das wird toll.

rah!

Wie jüngste Statistiken der Freizeitbekleidungsindustrie belegen, hat sich der von führenden Modeschöpfern längst propagierte Trend zum Einteiler mittlerweile schichtenübergreifend durchgesetzt. Besonders vorne liegen dabei, wie so oft in dieser Branche, die Frauen zwischen 13 und 26 Jahren. So sieht man in Berliner Freibädern entblößte Brüste noch vorwiegend an alleinerziehenden, oft in Gruppen lagernden Müttern sowie an selbstbewußten Emanzen um die 30 bis 40, die sich ihrer Freiheit als stolze Verliererinnen brüsten. Hängebusen raus – im naturtümelnden Nudismus wird nicht nur konsumresistent der neuesten Lolitamode getrotzt, es wird jetzt offensiv und offensichtlich gealtert. Man wird altmodisch. So geht das.

Vogel

Alle Fotos sind aus dem Band „Sommer in Berlin“, Momentaufnahmen der Gebrüder Haeckel von 1909-1914, erschienen im Album Verlag (20,- DM), erschienen als Begleitband zur Ausstellung im Heimatmuseum Charlottenburg, bis 11.9. ebenda.