Glasnost und Perestroika jetzt amtlich

■ ZK der KPdSU will im Frühjahr Präsidenten und neues Parlament wählen lassen / Amtszeit der Funktionäre jetzt begrenzt / Nur noch „Vorhut der Gesellschaft“ in die Partei / Abkehr von Kollektivwirtschaft

Moskau (ap/afp) - In der Sowjetunion soll im Frühjahr nächsten Jahres ein gewähltes Parlament zusammentreten und einen sowjetischen Präsidenten berufen. Dies ist der wichtigste Punkt eines vom Zentralkomitee der Partei beschlossenen Zeitplans, nach dem die Reformpläne von Parteichef Michail Gorbatschow verwirklicht werden sollen. Wie die Nachrichtenagentur TASS am Samstag berichtete, sollen bereits bis Ende dieses Jahres die rund 20Millionen Parteimitglieder neue Parteifunktionäre wählen. Deren Amtszeit wird auf höchstens zweimal fünf Jahre beschränkt.

Das ZK hatte am Freitag über die Ergebnisse der Allunionsparteikonferenz vom Juli beraten, auf der Gorbatschow diese Reformen vorgeschlagen hatte. Die 307ZK -Mitglieder beschlossen, daß dem Obersten Sowjet bis Oktober ein Gesetzentwurf über die notwendigen Verfassungsänderungen und über den Ablauf der Wahl zum Kongreß der Volksvertreter vorliegen muß, bei der mehrere Bewerber für einen Sitz kandidieren können. Im März soll das Volk einen neuen Kongreß der Volksvertreter mit 2.250 Mitgliedern wählen. Der Kongreß tritt im April zusammen und wählt einen sowjetischen Präsidenten mit weitreichenden Befugnissen. Aus ihrer Mitte bestimmen die Abgeordneten außerdem 400 Mitglieder eines ständig tagenden Parlaments, des neuen Obersten Sowjets. Das alte Gremium dieses Namens war nur einmal jährlich zusammengekommen, um die vom Präsidium vorbereiteten Gesetzentwürfe gutzuheißen.

Der neue Oberste Sowjet soll den ZK-Beschlüssen zufolge die seit längerem angekündigten Gesetze über die Aufgaben und Rechte der Presse in der Sowjetunion sowie neue Gewerkschaftsgesetze ausarbeiten. Weiter heißt es, die Umgestaltung der Justiz müsse bis Mitte 1989 abgeschlossen sein.

Das ZK beauftragte das Politbüro, bis Anfang 1989 Vorschläge für die Lösung der Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion zu machen, über die anschließend eine ZK -Vollversammlung entscheiden werde.

Zur Neuorganisation der Partei beschloß das ZK, daß die Parteigremien bis zum Jahresende Rechenschaftsberichte vorlegen müssen. Die Wahl der Funktionäre solle sicherstellen, daß nur noch fähige Leute, „die hohe Fortsetzung Seite 2

moralische Qualitäten besitzen und in der Lage sind, die Arbeit auf neue Art und Weise zu organisieren“, an der Spitze stünden. Die Begrenzung der Amtszeit auf insgesamt höchstens zehn Jahre gilt nicht rückwirkend, und Ausnahmen sollen möglich sein.

Gorbatschow hatte in seiner Eröffnungsrede der ZK -Vollversammlung vorgeschlagen, die Zahl der Parteimitglieder deutlich zu verringern. Nicht wie jetzt zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung, sondern nur noch die „Vorhut der Gesellschaft“ solle in der Partei organisiert sein. Nach Ansicht westlicher Beobachter könnte die Überprüfung der Mitgliedslisten genutzt werden, korrupte oder untätige Parteimitglieder oder auch Gegner der Perestroika zu entfernen.

Mit seinem neuen Vorschlag zur Reorganisierung der sowjetischen Landwirtschaft, nämlich Verpachtung von Land an Bauern zu ermöglichen, hat Gorbatschow eine neue Etappe der Abkehr von der Kollektivwirtschaft eingeleitet. In seiner Rede vor dem Zentralkomitee der KPdSU hat er am Freitag de facto mit der geplanten Einführung von Privatpachtverträgen eines der geheiligten Prinzipien der sowjetischen Agrarwirtschaft in Frage gestellt. Der unerwartet angekündigte Gesetzentwurf soll Verträge mit langer Laufzeit - über 25, 30 oder sogar 50 Jahre - erlauben.