Von kleineren Übeln und Anderem

■ Vom politischen Schriftsteller Christoph Martin Wieland, der nicht Gedachtes vermitteln, sondern das Denken lehren wollte

Jan Philipp Reemtsma

Sie kennen das, nicht wahr, das kleinere Übel, ob Sie, liebe Leserin und lieber Leser, nun zum Wählen gegangen sind oder sich zur Wahl gestellt haben - einmal wollten Sie's haben und einmal sind Sie's gewesen. Aber lassen wir das für eine kleine Weile:

Stilpon befand sich eines Abends in seinem Garten und half seinem kleinen Knaben Schmetterlinge fangen, - denn, wiewohl der Knabe schon vier volle Jahre alt war, wußte er doch nichts von Metaphysik, Geographie, Astronomie, Weltgeschichte, Moral, Statistik, Grammatik und Dialektik; und Stilpon, wiewohl er ein Philosoph war, schämte sich nicht, eines so unwissenden Knaben Vater zu seyn, sondern half ihm, wie gesagt, Schmetterlinge fangen - als man ihm sagte, daß die Ratsherren Kleon und Eukrates in seinem Gartensaale wären. Diese Herren waren seine Freunde, so gut als Rathsherren Freunde eines Philosophen, der kein Rathsherr ist, seyn können; sie schätzten ihn hoch, fragten ihn öfters um Rath, wiewohl gemeiniglich erst, wenn es zu spät war, und wenn es auch nicht zu spät war, folgten sie ihm doch selten. Denn (sagten sie) sein Rath ist zwar gut; es ist klar, daß man es so machen müßte, wenn man's recht machen wollte; aber - es läßt sich nicht thun; Stilpon würde das eben so gut einsehen als wir, wenn er ein Rathsherr wäre.

Sie fragen ihn auch diesmal um Rat, nämlich wen sie zum Oberzunftmeister (für unsere Zwecke: Bürgermeister) des kleinen Stadtstaates Megara wählen sollten. Zwei Kandidaten stünden zur Verfügung. Der eine, Lampus, sei dumm, doch gutherzig; der andere, Megillus, ein Lump, aber intelligent. Stilpon:

Und die Megarer, wenn sie ihre Wohlfahrt von dem einen oder dem andern abhangen machten, was wären die?

Kleon: Du kennst die Welt, Stilpon, und dir sollte fremde vorkommen was beynahe täglich geschieht? Wie oft befinden sich die ehrlichsten Leute in dem traurigen Falle, aus zweyen Übeln eines wählen zu müssen? Es steht nicht in unsrer Macht, zu verhindern, daß nicht einer von diesen beyden erwählt werde: Aber wir haben wenigstens so viel Einfluß, daß wir die Wahl auf den Einen oder Andern lenken können.

Zumal die Republik in Gefahr stehe, einem gewissen Gorgias in die Hände zu fallen, der so dumm wie Lampus und so arglistig wie Megillus sei.

Da wir keine Hoffnung haben, der Republik so viel Guthes thun zu können, als wir wünschten, so muß es nun unsre Sorge seyn, ihr so wenig Böses zufügen zu lassen als möglich. Wenn man nun einmal in der unseligen Nothwendigkeit ist, aus zween oder dreyen Übeln eines zu erwählen, so ist da weiter nichts zu thun, als so genau als möglich abzuwägen, welches das leichteste sey, und dann herzhaft zuzugreifen.

Kleon und ich können uns nicht vergleichen, ob Lampus oder Megillus das kleinere Übel sey. Lampus ist dumm, Megillus böse, Gorgias beydes. Die beyden ersten zusammengenommen sind ungefehr so schlimm als der Letzte allein; aber daraus folgt nicht, daß einer von ihnen gerade so viel wiegt als der andre. Megillus, so schlimm er ist, hat Verstand, sage ich: Lampus, so dumm er ist, hat ein gutes Herz, sagt Kleon. Kleon ist für das Herz; ich, für den Verstand: welcher von uns beyden hat recht? Was ist Ihre Meynung Stilpon?

Und Stilpon erklärt sich bereit, das Pro-und-Contra sich vortragen zu lassen, nicht ohne allerdings zuvor bedeutet zu haben:

Ich gestehe Ihnen, meine Herren, ich habe einige Zweifel gegen das gute Herz Ihrer Dummköpfe und gegen den Verstand Ihrer Schurken.

Kleon nun spricht für den Dummen. Zwar werde der, weil er eben dumm sei, nur ein Bruchteil des Guten tun können, was er täte, wäre er nicht so dumm, aber ein wenig bliebe doch übrig. Anders der Schurke. Der werde Böses tun, und umso mehr als er klug genug sei, im Bösen auch Erfolg zu haben.

Neinein, sagt Eukrates: Da der Dumme sich raten lassen müsse, werde er zum Werkzeug. Zum Werkzeug intelligenter und ehrlicher Leute könne er nicht werden, da diese es sich nicht lange zumuten lassen würden, einem Tölpel, der ihre Ratschläge verhunze, zu raten. Der ehrliche Intellektuelle sei als Politikberater nicht lange denkbar. Es würden also die Schurken sich den Dummkopf zum Instrument ihrer Politik machen. Der kluge Lump hingegen sei durchaus zum Guten zu verführen, handele er doch selbstsüchtig. Wenn es gelingen könnte, die Angelegenheiten so zu richten, daß ihm nütze, was dem Gemeinwohl nütze, so sei der Schuft zum Guten zu verführen. Nun also, Stilpon: Was ist deine Meinung?

Wenn es denn auf meine Meinung ankäme, so Stilpon, würde ich vielleicht dem Eukrates den Vorzug geben,

wiewohl nicht zu läugnen ist, daß es in solchen Fällen immer die zufälligen Umstände sind, die am Ende den Ausschlag geben, und diese können eben sowohl für die eine als für die andere Meinung fallen. Aber legen wir die Hand aufs Herz und fragen uns: was müßen die Megarer seyn, und was verdienen sie zu leiden, wenn sie die Wohlfahrt ihres gemeinen Wesens auf eine so gefährliche Spitze setzen? Welch ein Einfall, nur einen Augenblick in ernstliche Überlegung zu nehmen, ob es besser sey die Republik einem guten Manne ohne Kopf oder einem Schlaukopfe ohne Herz preiß zu geben?

Die Ratsherren bedanken sich , gehen nach Hause, dann ins Parlament und wählen schließlich dort, dem Rat des Philosophen folgend, weder Lampus noch Megillus. Da sonst niemand zur Verfügung steht, wählen sie

einmüthig den Gorgias, den einzigen Mann in Megara, von dem man gestehen mußte, daß er zugleich so dumm und so boshaft sey, als ein und derselbe Mensch beydes zugleich seyn kann.

Man mag sich darüber streiten, ob dieser Dialog Christoph Martin Wielands Stilpon oder über die Wahl eines Oberzunftmeisters von Megara, der hier nur in seiner erzählerischen Pointierung wiedergegeben ist, zentrale Motive bürgerlichen Politik-raisonnements im Banne seines satirischen Gestus‘ fixierte, oder ob hier - wie in der verwandten Geschichte der Abderiten - eine dem Wesen nach intentionslose Abschrift der Oberfläche stattfinde, die gerade deshalb nicht komisch sei, weil sie auf die Illusion verzichte, es sei etwas „dahinter“ - oder wo die dialektische Pointe liege, die beide Betrachtungsweisen vereine - aber lassen wir das für diesmal. Es gibt jedenfalls keinen deutschsprachigen Schriftsteller vergleichbaren Ranges dieser Zeit, der ein auch nur annähernd so umfangreiches Programm politischer Schriftstellerei entworfen, und es gibt keinen, der den weltpolitischen Focus seiner Zeit - die Französische Revolution

oder richtiger zu reden, der vier oder fünf Revoluzionen, welche Frankreich seit 1789 erfahren hat

-nicht nur sogleich als solchen erkannt, sondern auch die Jahre 1789 ff mit gleichem Sinn für Tagesaktualität wie welthistorische Perspektive kommentiert hätte.

Die zwey wichtigsten Ereignisse des vorigen Monats

heißt, so scheinbar prä-journalistisch wie unscheinbar, ein Aufsatz vom März 1790. Das eine Ereignis ist der Tod des österreichischen Kaisers Josph II., dem Wieland einen Nachruf schreibt. Der Nachruf schildert jenen Kaiser, einmal eine der großen Hoffnungen der aufgeklärten Intellektuellen Europas, als Inbegriff guter Vorsätze und defizitärer Realisierungen, schließlich wohlwollend als einen Vor -Zeitigen. Die andere

für ganz Europa, ja für die ganze Menschheit interessante Begebenheit des vorigen Monats ist das am dreyzehnten desselben erfolgte Decret der Französischen National -Versammlung, wodurch alle Mönchs-Orden und Klostergelübde in Frankreich auf immer aufgehoben und abgeschafft worden, sans quil puisse en etre etabli de semblables a l'avenir. Ich überlasse mich hier, indem ich dieser auf ewig merkwürdigen Ereigniß erwähne, bloß dem süßen Gefühl der Freude, die das Herz eines jeden am Wohl der Menschheit theilnehmenden Weltbürgers bey dem Gedanken erquicken muß, bis zu dieser Epoke gelebt zu haben, wo die cultivierteste Nation von Europa der Welt das große Beyspiel einer Gesetzgebung giebt, die, lediglich und allein auf Menschenrechte und wahres National-Interesse gegründet, in allen ihren Theilen und Artikeln immer der klare Ausspruch der Vernunft ist, und daher auch so fest steht, so genau zusammen hängt, und so schön mit sich selbst übereinstimmt, daß ihre Feinde und Tadler selbst, durch die Macht der Überzeugung endlich überwältigt und gewonnen werden müssen.

Das ist geschwärmt. Aber die Schwärmerei tadle nur, wer die Einsicht, die aus der Schwärmerei gekommen ist, verwerfen will. Wieland hatte die antikirchliche Gesetzgebung in Frankreich und den Tod Josephs II. deshalb in einen Artikel genommen, weil er demonstrieren wollte: daß es weniger auf die Intentionen eines Regierenden als auf potentielle Mehrheiten (und deren Fähigkeit, sich durchzusetzen) ankomme. Und diese Einsicht zusammen mit dem historischen Schauspiel führen in eine weitere Schwärmerei, da die Idee menschlichen Fortschritts auf einmal reale Kontur zu bekommen scheint - Wieland redet wie ein kulturrevolutionärer Rotgardist:

Nun kann aber die neue Constitution nicht durchaus vernunftmäßig seyn, wofern nicht alle politische und sittliche Irrthümer, alle Wahnbegriffe, die das Licht der Vernunft nicht aushalten, alle alte Einrichtungen, Institute und Gewohnheiten, die ohne offenbaren Schaden des Ganzen nicht bestehen können, gänzlich aufgehoben und vernichtet werden.

Die Repräsentanten der Nation, denen die Arbeit aufgetragen ist, können und dürfen also, ohne ihr eigenes Werk zu untergraben, nicht ein einziges Vorurtheil gelten lassen, nicht eines einzigen Mißbrauchs verschonen.

Nun kennt man ja die Revolutions-Enthusiasten; man weiß auch, daß nicht jede Attitüde jederzeit Konjunktur hat. Man kennt auch das klassische Kriterium, das erlauben soll, die Schwärmer der ersten Stunden von denen zu unterscheiden, die „wirklich für“ die Revolution waren: Wie stellten sie sich zu der Hinrichtung des Königs? - Nun, wie wird er sich gestellt haben, wenn er bereits vor der Hinrichtung von den Jakobinern als Aufhetzern

trunken gemachter Menschen, Leuten mit zerrißnen Hosen (Sans-Culottes), Hitzblasen, Geschwüre und Pestbeulen der Nazion

schreibt?

Er hat so geschrieben: Versetzen Sie sich, liebe Leserin und lieber Leser, auf den Olymp und lauschen Sie einem Stücklein Disput zwischen Jupiter und seinem Weibe Juno. Diese moniert, daß er, der Götter König, die frevelnden Menschen nicht maßregle. Jupiter definiert sich so, wie Wieland dies an anderem Orte für sich selbst getan hat: als „Aktivzuschauer“:

Jupiter: Der ganze Olymp ist mein Zeuge, daß ich diesen Begebenheiten als bloßer Beobachter zugesehen habe. Ich gönne den Sterblichen Gutes; aber ich vermag nichts gegen Nothwendigkeit und Natur: und wenn alle Ursachen, die zu Bewirkung einer großen Weltbegebenheit zusammenarbeiten, den Punkt ihrer Reiffe und ihres Einklangs erreicht haben, wie dies dermahlen der Fall war: so würden alle eure Kräfte, mit den meinigen vereinigt, unvermögend seyn, einen einzigen Kopf, welcher fallen muß, stehend zu erhalten. - Sonst sollte wahrlich der arme Louis Capet den seinigen nicht unter die Guillottine haben legen müssen!

Juno (auffahrend): Was sagst du? - Sie hätten ihre Verruchtheit bis zu einem so gräßlichen und zugleich so unpolitischen Frefel getrieben?

Jupiter: In diesem Augenblick!

Juno (mit einem grimmigen Blick auf Jupiter): In diesem Augenblick, sagst du?

Jupiter: Du siehst also, daß nicht mehr zu helfen ist.

Interessant, daß dem Götter-König die republikanische Redeweise vom Bürger Capet in den Mund gelegt wird. - Der private Wieland (in einem Brief an seinen Schwiegersohn Karl Leonhard Reinhold, am 22.7.1792) liest sich übrigens so:

Die französischen Angelegenheiten werden immer kritischer, und der Moment der Entscheidung rückt also immer näher. Die Nazional-Versammlung hat die fatalen Worte ,'Citoyens, la Patrie est en danger!‘ nun wirkl. an alle Departements, Distrikte u. Municipalitäten des Reichs ergehen lassen - In wenigen Tagen wird die ganze Nazion, wie Ein Mann, aufstehen, sich bewaffnen wie und womit sie kann, und jeder bewaffnete, in Panischen Schrecken u. fanatischem Zelum für die Freyheit u. Gleichheit gesetzte Hauffe des Volks wird von allen Enden sich in Bewegung setzen, um das Feuer, das sie löschen sollten, erst recht allgemein zu machen. Wenigstens kann man sich, in dem Anarchischen Zustand des Reichs, bey der fast allgemeinen defiance gegen die autorites constituees und bey dem allvermögenden Einfluß der Jakobiner, nichts bessers von dieser Maasregel versprechen, zu welcher sich die schwachköpfige Nazional -Versammlung abermahls bloß durch den Jakobiner-Klub zu Paris hat hinreissen lassen.

Im Geiste der oben zitierten Juno, möchte man meinen, ist das geschrieben, aber ganz im Sinne des olympisch-kühlen Jupiter geht es fort im Briefe:

Wie vieles auch an den Jakobinern mit Grund auszustellen ist, so kann ich mich doch nicht erwehren, ihre Sache im Ganzen innerlich zu begünstigen; denn, in fine finali, würde ihre Unterdrückung unfehlbar der Tod der Gleichheit u. Freyheit seyn, und, wenn Frankreich zuletzt doch eines von beyden, Monarchie oder Republik seyn müßte, so ist es wahrl. besser, daß Einer umkomme, als daß das ganze Volk verderbe.

Spätestens hier wird Ihnen, Leserin und Leser, die Frage nach dem „Standpunkt“ Wielands unumgänglich scheinen, und wenn ich Ihnen diese Frage im Stile etwa des Wieland -Biographen von 1948, Friedrich Sengle, beantworten müßte, würde ich sagen: Er hat keinen gehabt. Oder mit Sengles Worten: „Er besitzt kein absolutes Ideal, das ihn durch alle Stürme bis zur Überwindung Napoleons hindurchtragen könnte“, er habe allein das „leidenschaftliche Bemühen um die Wahrheit“ sein eigen genannt. Pauvre ami. Ach nein, lassen Sie es sich doch lieber mit Wielands eigenen Worten sagen:

Egbert: Verzeihen Sie! Ich habe Ihnen bloß meine Meinung von der Sache gesagt, und ich bin sehr bereit zu hören, was Sie mir dagegen einwenden wollen.

Sinibald: Nein, lieber Freund! Auf diesem Wege würden wir nicht weiter kommen, als daß am Ende jeder mit seiner Meinung davon ginge; und das können wir besser jetzt gleich thun, und uns den vergeblichen Wortwechsel und die verlorne Zeit ersparen. Wenn Sie, wie Tristram Shandy sagt, die Wahrheit als etwas, das wir noch nicht haben und einander suchen helfen wollen, betrachten können, so bin ich Ihr Mann; wo nicht -

Das ist nun, ins Allgemeine gesprochen, eine klassische Maxime kluger Aufklärung (Lessing sagt mit anderen Worten an anderem Orte dasselbe), aber es ist in diesem besonderen Falle auch das Programm des politischen Schriftstellers Christoph Martin Wieland. Der scheinbare Widerspruch im oben zitierten Brief - hie die Beschreibung einer von Schwachköpfen und Demagogen mit den Schlag- und Totschlagwörtern „Freiheit und Gleichheit“ fanatisierten Volksmenge, dort das Bekenntnis zu ebendiesen Maximen und das Einverständnis mit den Jakobinern, was die Regierungsmaßnahme betrifft, den Bürger Capet zu köpfen erklärt sich aus einem Perspektivenwechsel. Einmal beschreibt Wieland ein zu erwartendes aktuelles Geschehen (und hält seine Abneigung, bestimmte massenpsychologische Abläufe betreffend, nicht hinter dem Berg), das andre Mal bewertet er dieses Geschehen als ein historisches Ereignis (und verbirgt auch hier nicht seine Meinung über die vermutete und schließlich gebilligte Tendenz). In beiden Fällen aber ist die „eigene Meinung“ Zugabe und nicht das Wesentliche. Entschieden - und das wird bei der Übersicht über seine politischen Schriften deutlich - hielt er das Verbreiten einer eigenen Meinung nicht für die Aufgabe des politischen Schriftstellers. Wieland demonstriert in seinen Texten, wie man zu einer Meinung kommen kann, wie man sie begründen kann, welche Fehler man bei Begründungen machen kann, welchen Mißverständnissen Disputanten aufsitzen können. Will man es auf eine Formel bringen, so kann man sagen, Wieland habe nicht Gedachtes vermitteln, sondern denken lehren wollen. Es ging ihm nicht darum, einen Disput so oder so zu entscheiden, sondern daß er auf einem höheren Niveau geführt werde.

Man hat das, zumal Wieland gern geschrieben hat, man solle die Dinge „unparteiisch“ untersuchen, oft mißverstanden, als sei Wieland ein Gegner politischer Parteinahme gewesen, was übrigens ja bloß hieße, ihn für einen Dummkopf zu erklären. Es ist natürlich, wie so oft, das Gegenteil richtig. Die revolutionären Ereignisse seien von einer Art, daß man Partei ergreifen müsse, so oder so, schrieb Wieland, nur möge man dies aus Gründen, nicht aufgrund von Zuneigungen tun. So gehen die Diskutanten in den Wielandischen Zwie- und Mehr-Personen-Gesprächen auch nicht im Konsens auseinander, genausowenig wie sie aus einem Konsens ins Gespräch eingetreten sind. Sie gehen nur klüger wieder auseinander. Und hier zeigt sich ein impliziter Begriff von Toleranz, der ganz anders ist als der landläufige. Ein Begriff von Toleranz, der genauer ist als die Larifari-Moral vom Einander-gelten-lassen, vom Ernst-nehmen des Dummkopfs neben mir. Er bedeutet, daß man dem Gegenüber einräumt, klüger zu werden. Ich gestatte ihm, von mir zu lernen. Das ist die Basis jener Folge-Haltung, die man gemeinhin für die Toleranz selber nimmt: das Gelten-lassen anderer Meinungen. Ich lasse sie ja nur deshalb gelten, weil ich die eigene für so wichtig nicht halte. Es geht nicht um irgendwelche Meinungen, sondern darum, wozu und worüber man etwas meint, meinen zu müssen, und um die Frage, wann die Meinungsäußerung um der Sache willen von Wichtigkeit ist. Seltener wenigstens als der Kommentar der Tageszeitung meint.

Ich setze nur noch ein Wort über eine mich selbst betreffende Stelle hinzu. Nach einigen höchst bescheidenen und billigen Vorerklärungen für diejenigen, die in diesem oder jenen Stück verschiedener Meynung mit ihm seyn könnten, setzt Hr.v.E. hinzu: 'Selbst mit Wieland kann ich, nach der sorgfältigsten Prüfung, nicht immer übereinstimmen: sollte ich deßwegen fürchten, er werde mir in keinem Stücke Beyfall geben?‘ - Der Himmel verhüte, daß ich von irgend einem denkenden Wesen verlange, mit mir überein zu stimmen, wenn er von der Richtigkeit meiner Behauptungen oder Meynungen nicht überzeugt ist; oder daß ich jemahls fähig werde, jemanden meinen Beyfall deßwegen zu versagen, weil er nicht meiner Meynung, oder nicht immer meiner Meynung ist!

Wieland war durchaus nicht immer der Meinung, von der er der Meinung war, daß sie am Platze sei. Für die Darstellung der französischen Ereignisse hat er oft eine besondere Form gewählt: die der zweiseitigen Kritik. Er hat die Revolution an ihrem jeweiligen status quo sowohl von einem Standpunkt aus kommentiert, dem die revolutionären Entwicklungen zu weit, als auch von einem, dem sie nicht weit genug gingen. Man dürfe, so heißt es in einem Dialog, das feudale System nicht demontieren

Ich würde mich wenigstens hüten, kein eingeführtes Gesetz eher abzuschaffen, bis ich gewiß wäre, daß ich es auch nicht einen einzigen Tag länger nöthig haben könnte.

Und im selben Dialog heißt es, nach der Abschaffung der Rechte des Klerus und des Adels müsse nun das neue Recht der

Capitalisten, die in den letzten funfzig Jahren unermeßlich Reichthümer auf Unkosten der Nation zusammen speculiert haben,

eingeschränkt und die Gesundung der Staatsfinanzen auf Grundlage eines Expropriationsprogramms erfolgen. Eine ähnliche Figur folgt später noch einmal: die Parole von der Gleichheit der Menschen sei, betrachteten wir die natürliche Ungleichheit, bloße Volksverführung; und schiere Demagogie sei sie umso mehr als die empörendste Ungleichheit, die zwischen Arm und Reich nicht aufgehoben werde. - Wieland, der von bloßer Meinung her ein Anhänger konstitutioneller Monarchie war, und, was Parlamente anlangte, das englische Zwei-Kammern-System schätzte, hat von der sozialen Dynamik der Revolution mehr verstanden als die meisten seiner Zeitgenossen. Auch die Rolle der Gewalt hat er nüchterner, klarer gesehen als die meisten. Er wäre, nimmt man die beiden Regionen Frankreich und 'Deutschland‘ zusammen in jener Zeit, an intellektueller Einsicht wohl nur mit dem zu vergleichen, der in Wielands Schriften nicht einmal das Zugeständnis hat, daß man ihm den allgemeinen Menschenverstand nicht werde absprechen können: Jean Paul Marat. Aber das, liebe Leserin und lieber Leser, müssen Sie mir nicht glauben. Lesen Sie es einfach nach.

In Ihren Literaturgeschichten finden Sie ohnehin von alledem nichts. Allenfalls finden Sie mit amüsierter Achtung erwähnt, daß Christoph Martin Wieland Napoleon prophezeit habe. Er hat ihn in der Tat im März 1798 als möglichen zukünftigen Diktator Frankreichs erwähnt:

Heribert: Und auf wie lange?

Wilibald: So lange als er es ausdauert. Ich besorge, ihr werdet ihn nur zu bald verlieren. Also je länger je besser.

Heribert (mit komischem Ernst): Buonaparte Diktator der großen Nazion! Der Vorschlag hat etwas einleuchtendes. Wir werden ihn in Überlegung nehmen.

-aber sich etwas auf das Eintreffen solcher „Prophezeiung“ zu Gute halten zu wollen, hat er für albern gehalten. Nichts aber ist in der Regel alberner als was einem die Wirklichkeit an Kommentaren nachliefert. Am 25. Januar des Jahres 1800 erscheint im 'St. James Chronicle‘ der Artikel „Prediction concerning Buonaparte“, der eine gesamteuropäische Veschwörung freimaurerischer (?) Provenienz vermutet, da selbst ein gewisser Hofrath „Weiland“ aus Weimar unter die frühen Drahtzieher zu rechnen sei.

Und so ist denn der Zufall, daß Etwas, das ich vor anderthalb Jahren im 'Teutschen Merkur‘ (den in Frankreich niemand liest) den Franzosen als ein Mittel sich zu retten, in einer Anwandlung von humoristischer Laune angerathen hatte, in Paris wirklich zu Stande kam, Ursache daran, daß ich in einem in ganz Großbritannien und Irland allgemein gelesenen dayly paper den gewöhnlichsten Lohn der Profeten erhalte

nämlich für den Miturheber des Ereignisses zu gelten. Jemanden wegen einer eingetroffenen Prophezeiung zu loben, sei ähnlich kindisch. Man nehme die prediction concerning Buonaparte

für eine von den unbedeutenden politischen Kannengießereyen, welche zufälliger Weise eintraf;

allein, man hat's bis heute für mehr genommen, und dort die Bedeutung des politischen Schriftstellers Wieland gesucht, wo sie nicht zu finden war noch ist.

Der politische Schriftsteller Christoph Martin Wieland ist bis zum Erscheinen seiner Politischen Schriften in drei Bänden nicht ernstlich zur Kenntnis genommen worden. Hätten wir klügere und bessere politische Schriftsteller zu Hauf gehabt in den letzten zweihundert Jahren, wäre das zu verschmerzen.

Christoph Martin Wieland, Politische Schriften, insbesondere zur Französischen Revolution. Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma, Hans und Johanna Radspieler. Drei Bände. Greno Verlag, Nördlingen 1988. 128 DM