„Immer mehr Menschen resignieren“

Der Chefredakteur der größten evangelischen Wochenzeitung in der DDR, 'Die Kirche‘ (Auflage 43.000), Gerhard Thomas, zur DDR-Pressezensur  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie fühlt man sich als Chefredakteur einer Zeitung, die kaum noch erscheinen darf und manchmal erst mit tagelanger Verzögerung rauskommt?

Gerhard Thomas: Es ist leider in den letzten Monaten und Wochen wieder verstärkt so gewesen. Die Ausgabe vom 25.September haben wir gar nicht erscheinen lassen können. Die darauf folgenden Nummern vom 2.Oktober und diejenige vom 9.Oktober sind verspätet ausgeliefert worden. Wir mußten aufgrund staatlichen Einspruchs Änderungen vornehmen.

Ihre Zeitung erschien ja auch schon mit weißen Flecken. Gibt es eine Vorgabe des Presseamtes beim Ministerrat dafür, was erscheinen darf?

Nein. Wir haben für unsere Zeitung, wie es dem Presserecht in der DDR entspricht, eine staatliche Lizenz. Darin sind konkrete Inhalte darüber, was erscheinen darf und was nicht, durchaus nicht festgelegt. Natürlich gilt für uns, wie für alle Zeitungen im Lande und das lassen wir uns sehr gerne sagen, daß nationalsozialistische Hetze, Pornographie und Dinge, die die DDR diskriminieren, nicht erscheinen dürfen.

Um solche Texte geht es doch gar nicht?

So ist es.

Wo setzen Sie denn selbst für sich die Schere an? Gibt es Themen, die für Sie heute noch keine sind?

Ich will es positiv sagen. Wir gehen davon aus, daß wir alles berichten, kommentieren, interpretieren können müssen, was in unserer evangelischen Kirche los ist. Das Problem entsteht da, wo dies in gesellschaftspolitische Thematiken hineinreicht. Da liegt der neuere Konflikt, den man etwa seit Februar diesen Jahres seit der ersten ökumenischen Vollversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Dresden datieren kann. An dieser Thematik ist der Konflikt aufgebrochen.

Teilen Sie die Auffassung von Konsistorialpräsident Manfred Stolpe, daß die Kirche in einen Stellvertreterkrieg hineingeraten ist?

Ich denke, wir befinden uns gegenwärtig in einer Situation, in der die politischen Entscheidungsgremien in unserem Land Angst haben, den Prozeß einer vorsichtigen und kontrollierten Öffnung fortzusetzen, der ja im vorigen Jahr durchaus begonnen hatte und den sie jetzt offensichtlich stoppen. Ich weiß nicht, ob sie wirklich Angst haben, ich kann es nur von der Analyse her sagen. Da unsere Kirchen ihre Gremien, Arbeitsgruppen, Synoden, Gemeinden - sich dem Prozeß der Öffnung, den wir an vielen Stellen für notwendig halten, selber sehr angelegen sein lassen, ist natürlich hier viel Konfliktpotential vorhanden. Ich denke schon, daß man ein wenig auf die Kirche abwälzt, wieder ein Feindbild braucht, um vielleicht auch Auseinandersetzungen in der eigenen Führung damit irgendwie in die Öffentlichkeit hinein zu transportieren.

Rechnen Sie mit weiteren Verschärfungen, mit einem möglichen Verbot der Zeitung?

Ich denke nicht, daß es Verschärfungen überhaupt noch geben kann. Für unsere Arbeit sind die Zustände zur Zeit wirklich absolut unerträglich geworden. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben, daß wir aus diesem Tief doch bald wieder herauskommen. Ich denke nicht, daß der Staat uns etwa die Lizenz für unsere Zeitungen entzieht. Das kann schlicht nicht im Interesse des Staates und unseres Landes sein. Ganz besonders betroffen und traurig macht mich an der Situation folgendes: Ich habe mich immer - und das ist auch heute noch so - diesem Lande und seiner Entwicklung verpflichtet gesehen. Ich lebe hier und will dieses Land zum Besten der Menschen, die hier Leben, auf die Zukunft hin mit entwickeln. Daß mein Beitrag, den ich mit meiner Öffentlichkeitsarbeit leisten kann, in letzter Zeit überhaupt nicht mehr akzeptiert wird, das ist etwas, was über mein Verständnis geht. Wir waren ja schon einmal im vorigen Jahr und davor in der Dialogsituation hier viel weiter.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum nach einer gewissen anfänglichen Gorbatschow-Euphorie vor etwa einem Jahr ein gewisser Abbruch der Hoffnung auf Öffnung in der DDR kam und sich seither nur noch Pessimismus ausbreitet?

Das zu erklären ist schwierig. Ich weiß es eigentlich nicht. Ich weiß nicht, weshalb die politisch Verantwortlichen in diesem Lande ganz offensichtlich vor dem, was wir in der Kirche Umkehr und Erneuerung nennen, solche Scheu haben. Ich kann dies letztlich nicht beurteilen. Wir können nur sehen und für uns feststellen, was dabei herauskommt. Und das ist für unser Land insgesamt etwas sehr Schädliches. Immer mehr Menschen resignieren, immer mehr Menschen sagen, wenn wir Hoffnung verbreiten, ihr seid hoffnungslose Illusionisten, immer mehr Menschen verweigern sich.

Interview: mtm