■ Im Mittelpunkt der Reihe soll die populäre Musik dieses Jahrhunderts bis in die frühe Nachkriegszeit stehen. In Berlin. Mit Sidesteps ins kulturelle Umfeld. Lang verweilen werden wir in den Zwanzigern, klar, und in der Nazizeit. Es geht um Revue, Jazz, Schlager, Tanzmusik, die Grenzen fließen, und keineswegs war es Goebbels gelungen, die „entartete Musik“ zur Gänze zu verbannen. In den Vierzigern und Fünfzigern dann wird sich zeigen, wie das kreative Tun Berlin den Rücken kehrt. SWINGING METROPOLIS erhebtauch nicht annähernd den Anspruch auf Vollständigkeit; unterhaltsame, vielleicht wissenswerte Appetithappen sollen serviert werden, subjektive Betrachtungen, Anekdoten mit Lese- und Hör-Tips zur weiteren Information. Eine Literaturliste ist für den Schluß geplant. * Ansonsten: Abschweifen gehört zum Erzählen, und konsequent chronologisches Vorgehen kann nicht garantiert werden. 1. Volkes Singstimme

Zu Beginn soll die Schreibe sein von den frühen Hits, von ganzfrühen Tagesschlagern, die allerdings die Tage überdauerten. Wollen mal sehen, was den Kids einheizte, neulich, im letzten Jahrhundert. Eine wichtige Figur war beispielsweise Friedrich Zeller, seines Zeichens Maurermeister, Komponist und Direktor der Singakademie, Berliner Liedertafel geheißen. Der Männerchor, eine hiesige Erfindung, noch heute vom Kommißkopp, dem Fußballfan, der Freiwilligen Feuerwehr und manch anderem eigentümlichen Kollektivwesen gepflegt, verhalf seinerzeit einem Carl Maria von Weber-Song aus dem herrschaftlichen Off musikalischer Elitär-Romantik zum ersten volkstümlichen Dauerbrenner: „Lützows wilde, verwegene Jagd“ scharmützelt los als deutsches Pendant der Marseillaise. Geradezu epidemisch wird des Volkes Adaption heutzutage klassischen Liedguts, als man den Freischütz (Weber wiederum) 1821 im Nationaltheater auf die Unsterblichkeit losläßt. Im März 1822 (das Wahre währet, konkurrenzlos) verschafft ein genervter Heinrich Heine seinem Unmut im 'Rheinisch -Westfälischen Anzeiger‘ seitenlang Luft:

„Haben Sie nicht wenigstens aus dieser Oper das Lied der Brautjungfern oder kurzweg den Jungfernkranz gehört? Nein? Glücklicher Mann! ... Bin ich noch so guter Laune des Morgens aufgestanden, so wird doch gleich alle meine Heiterkeit fortgeärgert, wenn schon früh die Schuljugend, den Jungfernkranz zwitschernd, bei meinem Fenster vorbeizieht. Es dauert keine Stunde, und die Tochter meiner Wirtin steht auf mit ihrem Jungfernkranz. Ich höre meinen Barbier den Jungfernkranz die Treppe hinaufsingen. Die kleine Wäscherin kommt 'mit Lavendel, Myrth‘ und Thymian‘. So gehts fort. Mein Kopf dröhnt... Den ganzen Nachmittag werde ich mit 'veilchenblauer Seide‘ gewürgt. Dort wird der Jungfernkranz von einem Lahmen abgeorgelt, hier wird er von einem Blinden heruntergefidelt. Am Abend geht der Spuk erst recht los ... ja, ich glaube fast, die Hunde auf der Straße bellen ihn.“

Eine typische Bissigkeit dies, möglicherweise ausgeheckt im Kneipengetös der Weinstube am Gendarmenmarkt, wo er gemeinsam mit Grabbe - gern den Nihilismus spritzen läßt. Und weil's so schön war, eine weitere Anekdote hierzu, vermittelt von Maurus Pacher, der öfter noch zum Zitat gelangen wird, birgt doch sein Buch Sehn Sie, das war Berlin wahre Kleinodien historischen Musikgeschehens:

„Als der alte Zelter eines Abends von der Singakademie nach Hause geht, trottet vor ihm einer Berliner Schusterjunge und kräht: 'Wir bri-hin-ge-hen Dich den Ju-hum-pfe-hern -kranz...‘ Weiter weiß er nicht und fängt immer wieder von vorne an. Lange hält das Zelter nicht aus und fällt mit seiner mächtigen Baßstimme ein: 'Mit veilchenblauer Seide!‘ Da dreht sich der Junge um, mustert den alten Mann und sagt mit der größten Ruhe: 'Hören Se, Männeken, Se - wenn Se sich den jrünen Jungfernkranz mit de vielchenblaue Seide singen wollen, denn können Se ihn ooch alleene anfangen!'“

Welch moderater Anfang plagender Berieselung, denk ich an RIAS Zwei und Tele Fünf.

Norbert Tefelski