Erinnerung an Jean Amery

■ Vor zehn Jahren nahm sich in einem Salzburger Hotel der Essayist und Publizist Jean Amery das Leben.

Beate Kirchenmaier

„Wo steht geschrieben, daß Aufklärung emotionslos zu sein hat?“

Einem breiteren Publikum bekannt und fast berüchtigt wurde er mit seinem Diskurs über den Freitod „Hand an sich legen“. Wer ihm allerdings vorwirft, er hätte eine Gebrauchsanleitung zum Selbstmord verfaßt, hat die Schrift wohl kaum gelesen oder nicht verstanden. Jean Amery, mit bürgerlichem Namen Hans Maier, 1914 in Wien geboren und ist als Sohn einer Kriegerwitwe in Bad Ischl aufgewachsen. Armut zwang ihn, auf ein reguläres Studium zu verzichten. Doch gelang es ihm offenbar, die eine oder andere Vorlesung von Schlick und Carnap zu hören. Der Wiener Kreises und insbesondere der frühe Wittgenstein prägten ihn. I. Biographisches

1930 beginnt er eine Buchhandelslehre in Wien. Vier Jahre später gibt er zusammen mit Ernst Mayer die Zeitschrift „Die Brücke“ heraus, in der literarische Aufsätze und Erstveröffentlichungen österreichischer Autoren erscheinen. 1935 verschärft sich seine Situation. Katholisch erzogen, hat er sich bis dahin nur wenig mit seiner jüdischen Abstammung auseinandergesetzt. „Es fing erst an, als ich 1935 in einem Wiener Cafe über einer Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon vorhandenen, aber damals nicht folgenschweren Wissen, daß ich ein Jude sei, eine neue Dimension gegeben.“ (Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein in: „Jenseits von Schuld und Sühne“).

Intellektuell hat er diese Veränderung rasch erfaßt, wie sein unveröffentlichter Erstlingsroman „Die Schiffbrüchigen“ zeigt. Doch anders als sein Protagonist Eugen Althager versucht er keinen individuellen Aufstand gegen einen einzelnen Nazi. Er bleibt zunächst in Österreich, tritt 1937 der jüdischen Kultusgemeinde bei und heiratet die Jüdin Regine Berger-Baumgarten. Erst ein dreiviertel Jahr nach dem Anschluß Österreichs ans Reich flieht er mit seiner Frau nach Antwerpen.

Nach der Besetzung Belgiens wird er inhaftiert und ins Lager Gurs deportiert. Ihm gelingt die Flucht nach Brüssel, wo er sich einer kleinen deutschsprachigen Organisation innerhalb des belgischen Widerstandes anschließt. Zwei Jahre später wird er verhaftet und nach Auschwitz deportiert.

Er zählt zu den wenigen Überlebenden: “... als ich mit 45 Kilogramm Lebendgewicht und einem Zebra-Anzug wieder in der Welt stand, noch einmal überaus leicht geworden nach dem Tode des einzigen Menschen, um dessentwillen ich zwei Jahre lang Lebenskräfte wach erhalten hatte“. (Wieviel Heimat braucht der Mensch in: „Jenseits von Schuld und Sühne“). Seine Frau war fünf Tage zuvor in Brüssel an Herzversagen gestorben.

Er bleibt in Brüssel und beginnt seine publizistische Laufbahn. 1955 heiratet er die gebürtige Wienerin Maria Leitner. Sie begründet nach seinem Tod den Jean-Amery-Preis für Essayistik. In diesem Jahr nimmt er auch das Pseudonym Jean Amery an.

Erst 1964 publiziert er auch in der Bundesrepublik. Es entstehen zunächst Funkessays, die später im Klett-Verlag erscheinen.

In den folgenden Jahren öffnet er sich zunehmend den deutschen Medien. Es beginnt eine intensive und freundschaftliche Zusammenarbeit mit dem 'Merkur' -Herausgeber Hans Paeschke. 1969 wird er Mitarbeiter der 'Frankfurter Rundschau‘, zwei Jahre später arbeitet er für die 'Süddeutsche Zeitung‘. In den siebziger Jahren erhält er zahlreiche Literaturpreise, der bedeutendste darunter ist der mit 20.000 Mark dotierte Lessing-Preis. Er dankt mit der Rede „Aufklärung als philosophia perennis“. Bemühungen österreichischer Freunde, ihm den Professorentitel zu verschaffen oder einen Orden zu verleihen, weist er hingegen zurück. II. Essays

Inzwischen kann er es sich auch leisten, Auftragsarbeiten zugunsten eigener Arbeitsprojekte abzulehnen. „Jenseits von Schuld und Sühne“, „Über das Altern“ und „Unmeisterliche Wanderjahre“ ergeben zusammen „so etwas wie einen essayistisch-autobiographischen Roman“ (Vorwort zu „Unmeisterliche Wanderjahre“). Dabei ist ihm weniger an der eigenen Lebensgeschichte gelegen als vielmehr an einer Zeitbiographie. „Die vier Jahrzehnte öffentlicher Ereignisfolgen (...) werden durch das Medium einer Person geführt. Einer von vielen hat erfahren, wovon hier berichtet wird“, heißt es in dem Vorwort.

Aus dem Gedankenspiel einer möglichen Wunschbiographie entsteht der Roman-Essay „Lefeu oder Der Abbruch“. Den im Paris der siebziger Jahre ansässigen Maler Lefeu holen die Erinnerung an die Schrecknisse des deutschen Faschismus wieder ein. Lefeu entpuppt sich als der deutschstämmige Jude Feuermann. Er scheitert am Schicksalsirrtum seiner Herkunft.

Seinen 1974 verübten Selbsttötungsversuch verarbeitet er in dem Diskurs über den Freitod, ohne allerdings das persönlich Autobiographische in den Vordergrund zu stellen. Diese Eigenart, die persönliche Erfahrung zum Anlaß für weitreichende Reflexionen zu nehmen, zeichnen seine Essays aus. III. Widersprüche

Widerspruch rief vor allem auch seine politische Haltung hervor. Er selbst verstand sich als Linksintellektueller oder auch als Linksemotioneller, wie ihn Francois Bondy in einer polemischen Replik bezeichnete. Amery stellte die Frage: „Wo steht geschrieben, daß Aufklärung emotionslos zu sein hat?“ und gab zur Antwort: „Aufklärung kann ihrer Aufgabe nur dann gerecht werden, wenn sie sich mit Leidenschaft ans Werk macht.“ (Vorwort zur Neuauflage von „Jenseits von Schuld und Sühne“ 1977).

Linksintellektueller oder -emotioneller zu sein hieß für ihn, daß er sich zumeist vorbehaltlos auf die Seite der Unterdrückten stellte. Seine eigene Erfahrung als Ausgestoßener und Verfolgter des Naziterrors bestärkten diese Haltung. Aktiver Widerstand gegen Unterdrückung und Unmenschlichkeit galten ihm noch Ende der sechziger Jahre als Wegmarken zur Menschwerdung, wie er in seinem Artikel über Frantz Fanon „Die Geburt des Menschen aus der Violenz“ beschreibt. Später schränkt er dieses Urteil allerdings drastisch ein. 1974 empfahl er den hungerstreikenden RAF -Gefangenen nicht aufzugeben, obwohl er deren Aktionen mißbilligte. Seine Äußerung hatte ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Billigung von Straftaten zur Folge, das allerdings ein halbes Jahr später eingestellt wurde.