Gorbatschow ist kein Berliner

■ Der Status der gespaltenen Stadt sorgte für Wirbel bei Kohls Kreml-Besuch

Forsch, forsch, der Bundeskanzler. Kaum im Kreml, belehrte er den Gastgeber über die „Widernatürlichkeit“ der deutschen Teilung und die Notwendigkeit, Berlin „voll“ in die Vertragsbeziehungen zwischen Bonn und Moskau einzubeziehen. Gorbatschow seinerseits konterte und warnte vor Versuchen, den besonderen Status West-Berlins anzutasten. Doch während sich die Regierungschefs noch im ideologischen Schattenboxen übten, gingen die Praktiker schon an die Arbeit.

Soldatenfriedhöfe haben unseren Kanzler schon mehrfach zu geistigen Höhenflügen animiert. Im Angesicht der Toten auf dem deutschen Soldatenfriedhof Lublino bei Moskau fand Kohl die Lösung für die Einbeziehung Berlins in die Zusammenarbeit zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik: „Es wird eine neue Standardformel geben, mit der wir leben können - das ist neu.“ Er wußte auch: „Weder Gorbatschow noch ich sprechen das letzte Wort der Geschichte.“ Damit reagierte Kohl auf die ablehnende Haltung des Kreml-Chefs auf sein Plädoyer, in der Berlin-Frage Flexibilität zu zeigen. Gorbatschow hatte bei einer Tischrede jeden Versuch zurückgewiesen, den besonderen Status von Berlin zu verändern.

Während der Generalsekretär in fast allen außenpolitischen Fragen neue Wege sucht, tritt er - was die Berlin Politik angeht - in die Fußstapfen seiner Amtsvorgänger. Er pocht vor allem auf die „strikte Einhaltung und volle Anwendung des vierseitigen Abkommens über Westberlin“, das der Sowjetunion ein starkes Mitspracherecht bei Aktivitäten des Bundes in oder für West-Berlin einräumt.

Nennenswerte Fortschritte bei Verhandlungen über Berlin gab es in den letzten Jahren vorwiegend im wirtschaftlichen Bereich. Bereits im Juli 1986 war ein wissenschaftlich -technisches Rahmenabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion abgeschlossen worden. Bei Kohls Besuch wurde nun ein Umweltabkommen und ein Ausführungsabkommen zum Kulturvertrag von 1973 unterzeichnet. Sämtliche Abmachungen waren schon im Gefolge des Viermächteabkommens von 1971 ausgehandelt worden, ihre endgültige Unterzeichnung war aber immer an der Frage der Einbeziehung West-Berlins gescheitert. Hier ist mit der sogenannten „personenbezogenen Regelung“ ein Kompromiß gefunden worden: Beispielsweise werden nun Mitarbeiter von Bundesbehörden an der Spree - wie dem Umweltbundesamt - nicht über ihre Dienststelle, sondern persönlich über Postfachadresse zu internationalen Tagungen eingeladen. Anfang dieses Jahres war außerdem beim Besuch Außenministers Schewardnadse in Bonn das deutsch-sowjetische Kooperationsabkommen unter ausdrücklichem Bezug auf das Berlin-Abkommen von 1971 verlängert worden. Der von Moskau angeregte und gleichfalls im Januar dieses Jahres verwirklichte Besuch des stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Antonow beim Regierenden Bürgermeister Diepgen hatte „zu 80 Prozent“ die ökonomische Zusammenarbeit zum Inhalt. Er war im übrigen der bislang ranghöchste Besuch eines Repräsentanten der UdSSR in West-Berlin.

Die wirtschaftlichen Beziehungen West-Berlins zur Sowjetunion haben sich seit Anfang der 70er Jahre zwar mehr als verzehnfacht, hinken aber hinter der Entwicklung zwischen der BRD und der Sowjetunion hinterher.

Die neue sowjetische Führung unter Gorbatschow öffnet sich aber nicht nur bundesdeutscher Industrie, sondern läßt früher streng beachtete ideologische und wirtschaftspolitische Vorbehalte im Verhältnis zu internationalen kapitalistischen Organisationen fallen. So wurde diesen Juni in Luxemburg „eine gemeinsame Erklärung“ zwischen der EG und dem östlichen Wirtschaftsverband RGW unter Dach und Fach gebracht, nachdem als letztes Hindernis die Einbeziehung West-Berlins positiv geregelt worden war. Ähnlich bemerkenswert für Status-Experten ist die Hinnahme der IWF-Tagung in West-Berlin, obwohl sich die Bundesregierung daran beteiligt hatte. Die Sowjetunion und die DDR verzichteten dabei nicht nur auf jegliche diplomatische Interventionen, sondern auch auf geharnischte publizistische Proteste. Normalerweise kritisieren oder boykottieren die sozialistischen Länder auch politisch nicht brisante Konferenzen, wie den Weltkongreß für Gynäkologie 1985. Andere Veranstaltungen können die Sowjetunion und die DDR über ihre Mitgliedschaft in den Trägerorganisationen sogar gänzlich verhindern, so beispielsweise die Austragung der Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr oder Konferenzen der UNO-Wirtschaftskommission für Europa (ECE) in West-Berlin.

Politische Andeutungen des Deutschlandexperten Falin vor einem Jahr über eine mögliche Entwicklung Berlins zu einem Bundesland wurden umgehend vom Außenministerium als persönliche Meinung abgewertet.

Die vorläufige „Berlin-Initiative“ der Westmächte für ein sogenanntes Luftkreuz und vermehrte internationale Veranstaltungen in West- und Ost-Berlin durch die Sowjetunion kam unter anderem deshalb nicht überraschend, weil darin aus östlicher Sicht die Hauptstadt der DDR auf eine Stufe mit dem „besonderen politischen Gebilde Westberlin“ gesetzt worden wäre. Gleichwohl ist die Sowjetunion zu Kosultationen über Weiterentwicklungen der Lage West-Berlins bereit - im Rahmen der Moskauer Verträge und des Viermächteabkommens über West-Berlin, wie Gorbatschow gegenüber Kohl betonte. „Wir sind nicht gegen eine Beteiligung Westberlins im europäischen und internationalen Geschehen und sind bereit, seine speziellen Interessen in der Wirtschaft und im Kulturleben zu berücksichtigen.“

Manfred Herrmann