Heinrich Albertz: Buße tut Not

■ Totensonntag, Buß- und Bettag, Volkstrauertag - Ein Gespräch mit dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Pastor Heinrich Albertz, über die Gedenktage im November und wie wir damit umgehen (sollten)

Herr Pastor Albertz, woran liegt es, daß der Monat November von vielen Menschen als eine Zeit der Traurigkeit empfunden wird?

Albertz: Das liegt zunächst einfach am Ablauf der Jahreszeiten. Es ist Herbst, alles wird dunkler und es ist leichter, traurig zu sein.

Ist nicht auch die Kirche daran schuld, die in den November gleich zwei traurige Festtage gelegt hat; den Totensonntag und den Buß- und Bettag?

Das sind zunächst gar keine traurigen Tage. Der Buß- und Bettag spricht von Veränderung, und Veränderung ist immer gut. Und der Totensonntag ist gleichzeitig der Sonntag, der von einem neuen Leben spricht und von einer uns unvorstellbaren neuen Welt.

Spätestens seit Alexander und Margarete Mitscherlichs Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ wissen wir, daß viele Menschen das Trauern verlernt haben bzw. sich

davor fürchten. Sind individuelle und gesellschaftliche Veränderungen ohne Trauer und Selbstreflexion möglich?

Die zum Schlagwort gewordene „Unfähigkeit zu trauern“ ist genau der Punkt von dem die beiden Tage sprechen. Denn zu trauern gilt es nicht nur über Vergangenes, sondern über das täglich von uns angerichtete Leid. Das ist die Voraussetzung für Veränderungen und verändern kann sich nur,

wer vorher traurig gewesen ist.

Ist es dann hilfreich, wenn uns die Kirche einmal im Jahr, im November, zu Selbstbesinnung und Trauer aufruft?

Natürlich ist das nicht die Sache eines oder weniger Tage im Jahr. Wie ein roter Faden zieht sich der Ruf nach Veränderung und nach Trauern-Können von der Urgeschichte des Alten Testaments bis zum Beispiel des Lebens Jesu. Daß an einem bestimmten Tag

Veränderungen und Trauer im Mittelpunkt der Predigt der christlichen Kirche steht, ist ja nicht falsch. Im übrigen hat es in den vergangenen Jahrhunderten unzählige Buß- und Bettage gegeben, oft zu ganz lokalen Anlässen. Es stünde uns in Bremen auch ganz gut an, uns gelegentlich an dieses oder jenes zu erinnern, z.B. den Sumpf im St.-Jürgen-Krankenhaus oder die Ratlosigleit bei der schrecklichen Entführung der Geiseln.

Der jetzige Buß- und Bettag ist vom Preußen-König Wilhelm III 1816 angeordnet worden. Wahrscheinlich, um seine Untertanen zu äußerstem Gehorsam anzuhalten.

Welche Möglichkeiten hat die Kirche, die Menschen dazu zu bewegen, nachzudenken und in einer sich rational gebärdenden Welt zu einer sich verändernden Lebensgestaltung zu kommen?

Sie hat ganz schlicht nur die Möglichkeit, mit der ganzen Strenge der 10 Gebote oder der Bergpredigt zu zeigen, in welcher Welt wir leben und welche Gegengewalt es geben könnte. Wenn die Kirche sich selbst daran hält und, das hat sie leider nur selten getan, ein Beispiel gibt, wie Frieden möglich ist, Gerechtigkeit zu verwirklichen und Minderheiten Schutz zu geben ist, dann hat das seine Wirkung.

Herr Albertz, wen erreicht die Kirche denn mit dem Credo der 10 Ge

bote und der Bergpredigt? Die jungen Arbeitslosen, die alleinerziehende Mutter, die drogenabhängige Prostituierte?

Natürlich erreicht die Kirche nur eine Minderheit. Ganz sicher ist immer noch deutlich, daß, wenn wir z.B. an die Besucher der Sonntagsgottesdienste denken, dort im wesentlichen die ältere Generation anzutreffen ist. Die vielen Gruppen, die im kirchlichen Bereich und z.B. in der Friedensbewegung arbeiten, sind jedoch vielfach jüngere Menschen.

Die Kirchentage sind inzwischen ein Fest der Jugend. Arbeitslose spielen dort leibhaftig eine große Rolle. Das alles ist jedoch statistisch nur schwer feststellbar. Dieselbe Frage ist allen Großorganisationen zu stellen. Wen ereicht die SPD, wen erreichen die Gewerkschaften oder die taz?

Haben Sie eine Vorstellung, wie der Kreis erweitert werden könnte?

Mit Geduld und Konsequenz.

Neben Totensonntag und Buß- und Bettag beschert uns der Kalender im November als weltlichen Gedenktag auch noch den Volkstrauertag. Sollten wir auf den nicht verzichten?

Das ist eine ziemlich radikale Anregung. Ein kirchlicher Feiertag ist der Volkstrauertag nicht. Er ist vielmehr eine Erfindung der Weimarer Republik, zum Gedenken an die Toten des 1. Weltkrieges. Gegen ihn wäre nichts einzuwenden, wenn er nicht erst von den Deutsch-Nationalen und dann von faschistischen Gruppen in unserem Volk verdorben worden wäre zu einer falschen Verehrung von Heldentum und Krieg.

Wenn für uns alle Buße nötig wäre, wie sollte dann die taz aussehen?

Daß sie darüber nachdenken möge, wie sie den großen Anspruch, eine wirklich aufgeschlossene linke Tageszeitung zu sein, nicht immer verdirbt durch den Stil, in dem sie schreibt, der für mich älteren Menschen oft in fataler Weise an den „Stürmer“ erinnert und daß sie nicht vergißt: Es gibt auch Traditionen in dieser Welt und Werte für Menschen, die sogar für die taz verbindlich sind.

Fragen: Elke Steinhöfel

Heinrich Albertz, 1915 in Breslau geboren, 1961-67 Innensenator und Bürgermeister von Berlin, 1970 Pfarrer, seit 1986 wohnhaft in einem Bremer Altenheim.