„Beim Lesen war Jenningers Rede antifaschistisch“

Gespräch mit dem 'Spiegel'-Redakteur Hellmuth Karasek zur Diskussion in der Akademie der Künste  ■ I N T E R V I E W

taz:Unter dem Motto „Vernichtung und Wiedergutmachung, ewige Schuld und Normalität“ diskutierten am Donnerstag abend u.a. Hellmuth Karasek, der DDR-Schriftsteller Stephan Heym und Schulsenatorin Laurien in der Akademie der Künste. Das Publikum war irritiert. Statt auf Empörung stieß die Jenninger-Rede auf positive Resonanz. Das ist, milde gesagt, ziemlich merkwürdig.

Hellmuth Karasek: Es ist so, wir kannten die Rede nur im schriftlichen Text, wir haben sie nicht gehört. Wir haben uns den Text besorgt, nachdem wir von dem Skandal, den sie hervorrief, gehört hatten. Beim Lesen der Rede können alle Mißverständnisse, die beim Hören deutlich wurden, nicht auftauchen. Da gibt es Anführungszeichen, und beim Lesen ist auch klar, daß diese Rede keineswegs eine Verherrlichung des Nationalsozialismus und eine Entschuldigung des Antisemitismus darstellt. Allerdings will ich nicht ausschließen, daß beim Anhören der Rede der fatale Eindruck entstehen kann, der offenkundig nun entstanden ist. Vieleicht ist Herr Jenninger nur zu dumm, einen solchen Text richtig vorzutragen.

Offenkundig war aber auch das Publikum ziemlich irritiert. Sie sagten, auch Sie könnten die Aufregung gar nicht verstehen. Würden Sie das heute wieder so sagen?

Ich würde heute folgende zwei Sätze wiederholen: Der eigentliche Skandal der Woche ist die Bemerkung des bayerischen Innenministers Stoiber, daß Deutschland nicht „durchmischt und durchraßt“ werden soll. Dies ist eine wirkliche Nazi-Äußerung. Zweitens würde ich wiederholen: Die Rede von Jenninger ist, wenn man sie liest, eindeutig antifaschistisch.

Fanden das die anderen Diskutanten auch?

Stephan Heym hat gesagt, daß die Rede unbewußt viele Auskünfte gebe, daß Jenninger sich wie auf einer Couch geäußert habe, also daß das Unbewußte zur Sprache gekommen sei. Und Professor Wolffsohn (Historiker und Autor des Buches Ewige Schuld?) hatte beim Lesen der Rede den gleichen Eindruck, nämlich daß sie in dieser Form jedenfalls kein Skandal ist. Frau Laurien kannte wie das Publikum nicht den Wortlaut, sie hat nur gesagt, welchen Eindruck sie vom Hörensagen hat, und hat die Rede zumindest als ungeschickt empfunden. Aber ich hab es nicht auswendig gelernt, was gestern gesagt wurde.

Einige aus dem Publikum hatten den Eindruck, es gehe hier nur um die Lust auf Gegenrede?

Überhaupt nicht, überhaupt nicht. Es war der frische Eindruck des gelesenen Textes.

Können Sie denn heute die Aufregung eher nachvollziehen?

Ich habe heute die Rede noch zweimal sorgfältig gelesen. Da ist mir die Aufregung immer noch nicht klar. Mir wird sie klar, wenn ich die Kommentare dazu lese, welche Wirkung die Rede hervorgerufen hat. Im übrigen ist das jetzt auch verschüttete Milch. Herr Jenninger ist zurückgetreten. Es ist nicht so, daß ich das bedauere, weil abgesehen von dieser Rede hat er mal Staeck-Plakate von der Wand gerissen und sich auch sonst als nicht besonders ausgezeichnet erwiesen.

Interview: Birgit Meding