Aktiver Streik im Atomzeitalter

In Frankreichs AKWs wird seit zwei Monaten gestreikt /Stromproduktion der AKWs durch Streikende heruntergefahren / Hohe Verluste für Betreiber EdF / Diskussion über Streikrecht und -möglichkeiten von Personal in Atomkraftwerken  ■  Von G. Blume und M. Schneider

Nogent-sur-Seine (taz) - Vergangenen Freitag, 17 Uhr 46 im Kommandosaal des Atomkraftwerks von Nogent-sur-Seine, 80 km südöstlich von Paris. Eine Digitalzahl zeigt an, daß der Reaktor 1 in diesem Moment 1252 Megawatt an das Pariser Stromnetz liefert. Schichtleiter Jean-Claude Soleil legt den Finger auf ein schwarzes Rädchen von der Größe eines Radioknopfs. Eine einzige Umdrehung würde jetzt den Strom -Output von Reaktor 1 um 10% drosseln. Jean-Claude Soleil dreht diesmal nicht am magischen Knopf. Im nationalen Streikplan der Gewerkschaften des AKW -Betriebsleitungspersonals ist für den Reaktor 1 in Nogent -sur-Seine am Freitag keine Produktionsdrosselung vorgesehen.

Am gleichen Tag aber erreicht der Streik, der vor genau zwei Monaten am 12. 0ktober begann, seinen bisherigen nationalen Höhepunkt. Am Freitag liefern Frankreichs AKWs für zwei Stunden 6300 Megawatt weniger als vorgesehen. Damit fällt die Normalleistung von fünf 1300 MW-Reaktoren praktisch aus. Die AKW-Stromproduktion wurde in den vergangenen Wochen zeitweise um bis zu 50% gedrosselt. Überall im Atomstaat haben Schichtleiter entgegen den Befehlen ihrer Kraftwerksleitung am kleinen schwarzen Knöpfchen gedreht. Jean-Claude Roux und Yvon Rosconval, die Gewerkschaftsvertreter der kommunistischen CGT und der den Sozialisten nahestehenden CFDT im AKW von Nogent nennen das einen „aktiven Streik“.

Aktiver Streik im Atomzeitalter - Frankreich erlebt einen Arbeitskonflikt gänzlich neuer Art. „Die Betriebsmannschaft kann entscheiden, was sie will“, analysiert Bernard Peyraud, der AKW-Chef von Nogent. „Nur wenn Sicherheitsprobleme auftreten, können Disziplinarmaßnahmen verhängt werden.“ Damit steht die Kraftwerksleitung dem Streik machtlos gegenüber. Beim „aktiven Streik“, wie ihn die CFDT -Gewerkschaft in den siebziger Jahren propagierte, nehmen die Arbeiter die Produktionsmittel selbst in die Hand. „Das ist hier unser größtes Druckmittel“, sagt CGT-Gewerkschafter Jean-Claude Roux.

Die CGT, die den AKW-Streik seit Oktober anführt, bis ihr später die CFDT zögernd folgte, fordert Gehaltserhöhungen von gut 1000 Francs (ca. 300 DM) und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Bei Verhandlungen mit dem staatlichen Elektrizitätsunternehmen EdF, dem alleinigen Betreiber aller französischen AKWs, erreichten die Gewerkschaften bisher die Einführung der 35-Stunden-Woche und weitere Verhandlungen im nächsten Jahr über die Arbeitsbedingungen. Der CGT reicht dieses Ergebnis nicht. Deshalb forcierte sie am Freitag die Streikaktionen. Zugleich verfolgt die CGT auf nationaler Ebene das Ziel, die derzeitige soziale Protestwelle zu bewahren. Nachdem der Streik in den öffentlichen Pariser Verkehrsbetrieben in den letzten Tagen abgeklungen ist, soll nun offenbar das AKW-Leitungspersonal die landesweite Streikwelle weiter vorantreiben.

EdF verliert damit Millionen. Vor Wochen bezifferten sich die durch nicht eingehaltene Exportquoten und erhöhte Produktionskosten entstandenen Kosten bereits auf ca. 20 Millionen DM. Heute zittern den Atommanagern die Knie: „Jederzeit können heute 200 Leute, die in den Streik treten, im ganzen Land die Lichter ausgehen lassen“, fürchtet sich Nogent-Chef Peyraud. „200 Leute haben 50 Millionen Geiseln in der Hand. Und sie haben das Bewußtsein über ihre Macht erlangt.“

Der CGT macht die Macht keine Angst. „Heute haben wir zugelangt. Wir waren an der Grenze von Stromausfällen“, freuen sich die im CGT-Büro von Nogent versammelten AKW -Ingenieure. Disziplinarmaßnahmen machen ihnen wenig Sorge: „Die hat es 1983 schon gegeben.“ Bei der CFDT ist man vorsichtiger. „Wir müssen unsere Druckmittel maßvoll gebrauchen“, warnt Yvon Rosconval seine CGT-Kollegen. „Niemand bei uns wünscht, daß unser Streikrecht in Frage gestellt wird.“ Das Wort ist gefallen und die Debatte eröffnet: Welches Streikrecht kann es in der Atomindustrie geben?

Bernard Peyraud reagiert zurückhaltend. Da würden die Politiker die Verantwortung tragen. Schließlich aber gibt er zu bedenken: „Wenn sich ein Flugzeugpilot in 10.000 Meter Höhe mit 300 Passagieren an Bord befindet, hat er dann das Recht zu streiken?“ Der Vergleich hinkt offensichtlich, denn in Nogent und anderswo lassen die Streikenden die Reaktoren gleichmäßig, nur bei geringerem Output, laufen. Zusätzliche Gefahren entstehen damit theoretisch nicht (vgl. nebenstehenden Bericht). Dennoch müssen sich die Gewerkschaften Einwände gefallen lassen. Beim AKW-Streik, anders als sonst, besitzt EdF nicht das Mittel der Aussperrung. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Streikenden ihren Arbeitsplatz nicht verlassen. Darüberhinaus läuft auch im AKW im Streikfall nicht alles wie üblich.

„Streiksituation sind von Natur aus komplizierter“, gibt CFDT-Ingenieur Pierre Gaudin vom AKW in Bugey bei Lyon zu. Als Schichtleiter hatte er im April 1984 mit dem bisher schwersten Unfall in der französischen AKW-Geschichte zu tun. „Beim Streik kommen meist viele Leute in den Kommandosaal, dort gibt es dann Diskussionen, die Leute sind angespannt, genervt, man streitet miteinander. Die Atmosphäre im Saal ist nicht ausgeglichen. Die Verantwortlichen, die den Reaktor steuern, sollten dies aber in allergrößter Ruhe tun.“ Darüber reden Gewerkschaften und EdF nicht. Die Sicherheit bleibe gewährleistet, heißt es aus aller Munde.

Kaum jemand in Frankreich nimmt Notiz von den ungewöhnlichen Ereignissen an der atomaren Arbeitsfront. Regierung, EdF, aber auch die Presse haben den AKW-Streik bisher verschwiegen. Gründe dafür gibt es natürlich genug: Wer trägt beim aktiven Streik die Verantwortung für den AKW -Betrieb? Welches Arbeitsrecht kann noch unter dem Diktat atomarer Gefahren existieren? Wird der Streik im Atomzeitalter zwangläufig zum unerträglichen Sicherheitsrisiko?

Fragen ohne Antwort und eine Feststellung von bisher auch von Atomkraftgegnern kaum erkannter Brisanz: Die Arbeitsverhältnisse in Atomkraftwerken schwimmen in einem gefährlichen Vakuum. Der Sonderfall Frankreich besteht nur darin, daß hier den AKW-Beschäftigten der Mut zum Streik nicht fehlt.