Eine Reise in die „Zone“

■ Eskortiert von einem schwarzen Wolga fuhr die Vorsitzende der Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg in das Sperrgebiet von Tschernobyl 8.000 Soldaten arbeiten an der Entseuchung der „Zone“ / Neue Zahlen über Tote und Verstrahlte als Folge der Reaktorkatastrophe

Rebecca Harms

Für den Schriftstellerverband der Ukraine geht Wladimir Alexandrowitsch mit uns in die „Zone“. Er gehört zu denen, die nach der Katastrophe erklärten: „Die Zeit der Bücher ist vorbei. Es ist andere Arbeit zu tun.“ Am 8. Mai 1986 war er als Freiwilliger nach Tschernobyl gegangen. Anderthalb Monate hat er dort gearbeitet, Reportagen für Zeitungen und Fernsehen gemacht.

Über die Belastung, der er ausgesetzt war, hatte er keine Kontrolle. Sein Freund, ein Filmemacher, der mit ihm zusammengearbeitet hat, ist letztes Jahr gestorben. „Er war gesund wie ein Bär. Dann bekam er diesen Lungenkrebs und starb sehr schnell. Ein Jahr nach der Katastrophe. Soll man fragen, warum?“

Unsere Dolmetscherin Warwara Waria Golaschiwili erfährt erst am Tag vor der Abreise vom Auftrag in Tschernobyl. Ihre Kolleginnen haben sich geweigert. Sie begleiten die deutschen Gruppen lieber nach Leningrad und an den Baikal als nach Tschernobyl. Warias Eltern sind Kernphysiker, ihr Großvater war einer von vier Erbauern des ersten russischen Atomkraftwerks.

Ihrem Vater sei nicht recht wohl beim Gedanken an diese Fahrt, ihre Mutter wisse noch gar nichts. Und ihre Freunde könnten einfach nicht glauben, daß wir nach Tschernobyl dürften.

Im Nachtzug nach Kiew erzähle ich, was ich über die Katastrophe und die Folgen weiß. Fast alles ist neu für Waria. Als wir ankommen, weiß ich nicht, ob es richtig war, ihr diese neuen Ängste aufzubürden. Sie dagegen geht jetzt fast entschiedener als ich in die „Zone“.

Wladimir holt uns am Morgen ab. Für Waria und mich besorgt er Mützen. „Das Haar muß geschützt werden“, sagt er. „Das Haar akkumuliert die Radioaktivität besonders stark und läßt sich schwer reinigen.“ Er geht seit Mai '86 nie ohne Mütze aus dem Haus. Ich schaue mich unter den Passanten um. Niemand trägt eine Mütze.

Natürlich habe ich Angst. Beruhigt hat mich die Vorstellung, daß man uns beim Eintritt in die „Zone“ „leichte Strahlenschutzbekleidung“ geben würde. Das Erschrecken darüber, daß das nicht üblich ist in Tschernobyl, geht unter in meiner Anspannung und Aufregung: diesen Ort sehen, dessen Name uns vor zweieinhalb Jahren in Panik versetzte - an einen Ort gelangen, der verloren ist - Zeuge sein... Zugegeben: Das sind zweifelhafte Gefühle. Der Weg in die „Zone“

Die Ukraine nördlich von Kiew ist ein sandiges Land. Der 6. Oktober ist ein heißer windiger Tag. Es staubt. Wegen der Hitze weigert sich unser Fahrer, sein Fenster hochzukurbeln. Ich versuche ihm zu erklären, daß der Staub sehr gefährlich sein kann. Er kann mich nicht verstehen. An Warias Übersetzung kann es nicht liegen.

Die Straße führt durch etliche Dörfer, kleine Holzhäuser stehen in herbstlichen Gärten, die abgeerntet und für den Winter vorbereitet werden. Überall brennen kleine Laubfeuer. In der Zeitschrift 'Wissen ist Macht‘ haben wir gelesen, daß im Herbst nach der Havarie besonders in den Öfen der Dorfhäuser sehr hohe Werte gemessen worden sind. Traditionell werden im Herbst die Öfen mit den trockenen Strünken der Sonnenblumen geheizt.

Was wissen die Leute an den Laubfeuern? Was wissen die Frauen, die an der Straße große Körbe frischer Pilze anbieten?

Je näher wir der „Zone“ kommen, desto dichter wird der Verkehr. Busse und Baufahrzeuge sind unterwegs. Endlose Militärkolonnen transportieren Menschen und Geräte. Dann tauchen Barackenlager auf. Die meisten liegen abseits der Straße. Die Größe läßt sich schwer abschätzen. Soldaten wachen an den Toren. Wladimir erklärt, daß in diesem Lager innerhalb und außerhalb der „Zone“ die für die Entseuchung eingesetzten Arbeiter und Soldaten untergebracht sind. Die Passierstelle

Ein kleines Dorf inmitten großer grüner Weiden, eine große Rinderherde - das ist das letzte Bild vor dem Übergang in die „Zone“. Der Schlagbaum ist oben, wir werden erwartet. Von jetzt an eskortiert uns ein schwarzer Wolga mit Blaulicht.

Auch ohne viele Fragen ist klar, daß die Genze, die wir gerade überquert haben, eine willkürliche ist: Mit dem Zirkel auf der Landkarte ist ein Kreis mit einem 30-km -Radius um die Atomstation Tschernobyl geschlagen worden. Doch diese Grenze ist durchlässig. Mehr als 900 Menschen sollen zurückgekehrt sein und in den verlassenen Dörfern leben.

Dem Land in der „Zone“ fehlt das Grün. Brachliegende Äcker und Weiden versteppen. Jetzt, im Herbst, ist alles trocken und gelb.

Der Ort Tschernobyl - nach unseren Begriffen - ein großes Dorf. Wir befinden uns noch außerhalb der inneren 10-km -Zone, 20 km entfernt vom Atomkraftwerk. Eine völlig unerwartete Geschäftigkeit im Ort: Viel Verkehr, überall treffen wir Arbeiter und Soldaten auf der Straße. Bäume werden geschnitten, Straßen gesäubert, in einer Kantine ist Frühstückspause. In Tschernobyl ist mehr los als in jedem Dorf, durch das wir unterwegs gefahren sind. Aber der Verkehr wird dominiert von Militärfahrzeugen.

Die Arbeiter tragen alle dieselbe Lagerkluft: graugrünes Drillich und dazu diese häßlichen Kappen übers Haar gestülpt, weiße Atemmasken baumeln am Hals. In den Gärten bewegt sich nicht. Nicht einmal eine Katze läuft über die Straße. Das Kombinat

„Die Menschen sind hier auf einer freiwilligen Dienstreise. Sie verdienen zwei- bis dreimal mehr als zu Hause.“ Pavel P. Pakutny gibt uns diese Auskunft, er ist Historiker und Leiter der Informationsabteilung des Kombinats Tschernobyl.

Das Kombinat Tschernobyl ist am 2. Oktober 1986 gegründet worden. 8.000 Menschen gehören dazu. 3.000 arbeiten in den Blöcken I-III des Atomkraftwerks. 1.500 Personen sind mit Entseuchungsarbeiten beschäftigt, 1.500 arbeiten im Transport, der Rest ist für Infrastruktur und Versorgung zuständig.

Zehn Prozent der Beschäftigten sind Frauen. Frauen sollen über 35, Männer über 30 Jahre alt sein. Junge Leute will man hier nicht einsetzen. Die Arbeit läuft im 15-Tage-Rhythmus: 15 Tage in der „Zone“ - 15 Tage Erholung außerhalb.

Zusätzlich zum Kombinat arbeiten 8.000 Soldaten an der Dekontaminierung der „Zone“. Es sollen Reservisten über 30 sein, die hier halbjährige Einsätze leisten. Der Einsatz des Militärs ist geheim. Genaue Angaben über ihre Arbeit sind nicht zu erfahren. Auch Strahlenschutzbestimmungen für die Soldaten sind unbekannt.

Nach dem Unfall wurden 138.000 Menschen aus der 30-km-Zone evakuiert. Seitdem haben 230.000 Zivil-Personen in der Entseuchung gearbeitet. 86 Menschen sollen - wie inoffiziell zu erfahren war - an den Folgen der Strahlenbelastung bisher gestorben sein, 239 gelten heute - offiziell - als strahlenkrank. In einem zentralen Sanitätsregister, das zu Tschernobyl eingerichtet wurde, sind 600.000 Personen aufgeführt. „Diese 600.000 werden regelmäßig untersucht.“ Wir erfahren nicht, was „regelmäßig“ heißt und welche Untersuchungen genau gemacht werden.

Die direkten und indirekten Kosten des Unfalls von Tschernobyl werden heute auf acht Milliarden Rubel geschätzt. Eine Milliarde ist als Entschädigung an betroffene Bürger gezahlt worden. Damit in den Döfern auf die Ernte am heimischen Garten verzichtet wird, erhalten die Besitzer 30-40 Rubel monatliches Ersatzgeld. Für die Tschernobyl-Opfer hat es außerdem einen nationalen Spendenaufruf gegeben. Unsere Dolmetscherin schildert ausführlich die Hilfsbereitschaft des sowjetischen Volkes. Die Menschen seien immer zum Geben bereit. Jedes Jahr sammeln Hilfswerke große Summen für Waisen, Sportler und jetzt auch für Tschernobyl. Ein Sorgentelefon

Pavel Pakutny, der Sprecher des Kombinats, bedauert, daß die öffentliche Meinung nach der „Havarie“ in Tschernobyl so negativ geworden ist. Durch die Glasnost-Politik hätten die Leute viel erfahren. Glasnost ist es auch zu verdanken, daß seine Informationsabteilung Mitte vergangenen Jahren überhaupt gegründet werden konnte. Die Abteilung hat die Aufgabe, über den „Nutzen der friedlichen Kernspaltung“ zu informieren, auch über Gefahren. Vorurteile sollen abgebaut werden. Ein Sorgentelfon würde eingerichtet.

Wir wechseln in einen „Zonen-Bus“. Obwohl Paktuny und einige Mitglieder seines Stabs uns begleiten, behalten wir die Blaulicht-Eskorte. Das Innere der „Zone“ ist das Gebiet im 10-km-Umkreis der Atomstation Tschernobyl. Diese Zone ist lückenlos umzäunt. Die Grenze um die innere Zone gilt als unüberwindbar, sie soll „funktionieren wie eine Staatsgrenze“, was immer das heißen mag.

Ständig überholen wir Tankfahrzeuge, die immer noch die Straßen abspülen. Das Wasser versickert am Straßenrand im Sand. Im Gelände lagern Maschinen, Bauteile, Betontrümmer. Ich erfahre nicht, ob diese Depots aus der Zeit vor der Katastrophe stammen oder ob hier verseuchtes, unbrauchbares Material herumliegt. In kleinen Gruppen bessern Arbeiter mit Schaufel und Hacke Straßen aus und räumen auf. Nur ein Teil dieser Arbeiter trägt Atemschutz. Die Atomstation Tschernobyl

Wir sehen den riesigen Komplex schon aus der Ferne. Außer einem Dschungel von Umspannmasten hält fast nichts den Blick ab. Der Fichtenwald in der Umgebung des Kraftwerds hat sich nach dem Unglück rot verfärbt. Zehn Hektar dieses roten Waldes mußten gerodet werden. Das Holz wurde zusammen mit 500.000 Kubikmetern abgetragener Erde in Betonsärgen endgelagert. Nur ein schmaler Streifen steht noch. Zur Beobachtung als einmaliges Forschungsobjekt. Die Bäume schlagen an einigen Zweigen neu aus.

Das Gelände um die Station wirkt verwüstet. Die aufgegebenen Großbaustellen der Blöcke V und VI verstärken diesen Eindruck noch. Das Verwaltungsgebäude der Station, in dem wir empfangen werden, gehört zu einem einzigen großen Gebäudekomplex, gemeinsam mit den drei laufenden Kraftwerksblöcken und dem Katastrophenblock IV. Jetzt umgeben von einem riesigen Sarkophag.

Eine halbe Stunde hat der neue Direktor Zeit für uns und als erstes präsentiert er seine Erfolgsbilanz: Die Blöcke I bis III hätten ihr Leistungssoll für 1988 planmäßig erfüllt. Durch technische und personelle Veränderungen seien die drei Blöcke jetzt wirklich sicher. Die Dekontamination und der Schutz der Mitarbeiter hätten höchste Priorität.

Von 1987 auf 1988 sei der zulässige Grenzwert von zehn auf fünf rem gesenkt worden. Im Sarkophag messe man zur Zeit 4.000 Röntgen/h, die Kettenreaktion sei unterbrochen, die Temperatur betrage 100 Grad, gekühlt werde mit Luft.

Nach westlichem Vorbild hat die Sowjetunion den Katastrophenschutzzug SPEZATOM aufgebaut. Wissenschaftler arbeiten an der Entwicklung von Robotern, die nicht wie die deutschen Liebherr-Geräte bei hoher Strahlung versagen sollen. „Der Sarkophag wird der Erprobungsort für die Roboter werden.“

Der Direktor selbst führt uns in den Kontrollraum von Block I. Wir müssen weiße Kittel, Kappen und Stiefel anziehen, obwohl die genannte Belastung im Werk niedriger ist als draußen in der „Zone“.

Ich frage, wie man das aushält, Tag für Tag Wand an Wand mit dem Katastrophenblock. Ich frage den Direktor auch, ob er Angst kennt. Als Antwort zählt er ein halbes Dutzend Namen auf, alles Familienmitglieder, und sie arbeiten auf verantwortlichen Posten in der Atomindustrie der UdSSR. „Ich bin tief überzeugt, daß der Tod des Menschen in der Kälte nicht die bessere Alternative ist“, gibt er uns mit auf den Weg in der verlassene Stadt Pripjat. „Radiophobie“

In der Umkleideschleuse bekommen wir als Souvenir eine Atemschutzmaske geschenkt. Daß ich dieses Ding sofort anziehe, deuten unsere Begleiter als ersten Anzeichen einer neuen Krankheit, der „Radiophobie“. Ungeachtet meiner Symptome erklärt Pakutny, daß solch ein einfacher Atemschutz die Belastung um das 200fache verringert. Er bemüht sich aufrichtig, uns zu beruhigen: Am Eingang des Kraftwerks messe man 0,3-0,4 Millirem die Stunde, an der Außenwand des Sarkophags 3-3,5 mrem/h, auf den Feldern in der inneren Zone zehn und am Haus der Informationsabteilung nur noch 0,1 mrem/h. Die verlassene Stadt

Pripjat ist eine häßliche Reißbrettstadt. 50.000 Menschen haben in den großen Wohnblöcken gelebt. Als der Reaktor durchging, haben sie den GAU vom Fenster aus beobachten können. Das Bild von Tausenden leerer Fenster, vom Stadion, das nicht mehr eingeweiht werden konnte, von diesen unerklärlich toten Straßen, vom verrosteten Spielplatz und dem einsamen Lenin in Stein prägt sich tiefer ein als der Kreml, der Rote Platz, die Basiliuskathedrale oder das schönste Haus Kiews. Auch in Pribjat ist der Boden ausgetauscht worden. Wo früher Rasen stand, wachsen heute Quecken und Wermut. Pakutny, zur Abwechslung ganz Historiker, übersetzt uns das Wort „Tschernobyl“. Im Altrussischen heiße es Wermut. Dann zitiert er fließend die Bibel: „Es steht geschrieben, daß ein Tropfen Wermut fallen wird, der Erde und Wasser vergiftet.“

Aus der ehemaligen Gärtnerei von Pripjat ist ein Labor geworden. Unter Glas und im Freiland untersuchen Wissenschaftler die Wirkung der Radioaktivität auf Pflanzen. In den Gewächshäusern, die wir besichtigen, bietet uns der Chef des Labors frischgeerntete Tomaten an. Der Verzehr sei unbedenklich, die Belastung unerheblich. Auf die Arbeit des Labors muß die Entscheidung zurückgehen, die uns Pakutny mitteilt: Ab 1989 sollen in der 30-km-Zone wieder Weizen und Kartoffeln angebaut werden. Das Gebiet könne eigentlich auch neu besiedelt werden. Vorsichtshalber warte man damit aber noch. Aus der 10-km-Zone soll ein Naturschutzpark werden. Wissenschaftler aller Richtungen bekämen dort ein einzigartiges Forschungsgebiet.

Es ist noch nicht ganz dunkel, als wir zum zweiten Mal die Barackenlager sehen. Militärkolonnen und Busse bringen die Arbeitskolonnen zurück in die Quartiere. Wir nehmen eine Arbeiterin mit, die bestimmt nicht älter ist als 25. Was das für eine Anstecknadel ist, die sie an der grünen Arbeitsuniform trägt, will ich wissen. Für den Einsatz in Tschernobyl 1988, übersetzt Waria die Aufschrift. Diese Plaketten verleiht der Staat jedes Jahr.

Als wir die Frau absetzen, schenkt sie mir die Ehrennadel und wünscht mir Glück. Pakutnys Worte fallen mir ein: Die Menschen empfinden die Katastrophe von Tschernobyl als großes Unglück. An der Beseitigung der Folgen müsse das ganze Volk mitarbeiten.

In Kiew sehen wir von unserem Hotel aus das Lenin-Museum. Gleich nebenan, eine der besten Adressen der Stadt, wohnt der neue Direktor der Atomstation Tschernobyl. Ob er die Lager so sieht, wie ich, wenn er daran vorbei fährt? „Wissenschaft ist Macht“

In der Augustausgabe der Zeitschrift 'Wissen ist Macht‘ sind neue Beobachtungen über die Folgen der „Havarie“ veröffentlicht. Waria übersetzt die Punkte, die sie für wichtig hält: - Im Umkreis von Tschernobyl, auch in Kiew, sterben Ratten und Mäuse in auffällig großer Zahl an Infektionskrankheiten. - Auch bei Menschen treten gehäuft Infektionen auf, die schlecht ausheilen. - Fichten tragen Nadeln, die so lang werden wie die der Kiefer.

Der Autor des Artikels, Grodsinski, schreibt außerdem, daß Mitarbeiter der Universität Kiew, die versucht haben, nach der Havarie Messungen durchzuführen, daran gehindert worden sind.

Zurück in Moskau erwartet uns eine Stadtrundfahrt. Warum wohl der rote Platz der rote Platz heiße, fragt die Fremdenführerin und gibt gleich die Antwort. Rot habe im altrussischen die Bedeutung von schön. Also: Roter Platz schöner Platz, rotes Mädchen - schönes Mädchen. „Und roter Wald?“, fragt Waria, unsere Übersetzerin. Roter Wald heißt in Tschernobyl toter Wald. Das Moskauer Kolloquium

Die Erwartungen unserer Gastgeber und des Publikums auf dem ersten deutsch-sowjetischen Kolloquium „Ökologie und Gesellschaft“ sind hoch. Vor allem beim Thema Tschernobyl und Atomenergie sind sie gierig nach Informationen. Was wir in der „Zone“ gesehen haben, davon haben die meisten hier keine Vorstellung. Was wir an Wissen mitbringen, weiß hier fast niemand. Und nun soll dies in einer öffentlichen Diskussion ausgesprochen werden.

Trotz großer Schwierigkeiten das auszudrücken, was wir gesehen haben, gelingen unsere Beiträge. Wir werden sehr gelobt, weil wir über das große Unglück geredet hätten, als habe es nicht die Menschen der Ukraine, sondern unser eigenes Volk getroffen. Im Abschlußprotokoll wird nüchtern festgehalten, daß die deutschen Teilnehmer und alle sowjetischen Redner die Nutzung der Atomenergie abblehnen. Basta.

Wir treffen zahlreiche Verabredungen mit Schriftstellern, Journalisten, Komitees, der Gruppe „Grüne Welt“, mit Sprechern informeller Gruppen. Informationen sollen regelmäßig ausgetauscht werden. Wir versprechen Bücher und Filme. Wladimir werden wir zu einer Lesereise einladen. Wir werden Geld für Meßgeräte für die Ukraine und Bjelorußland sammeln.

Das Ökoinstitut will schon im nächsten Jahr eine gemeinsame Fachtagung mit sowjetischen Experten veranstalten. „Man wird sehen“, sagt Waria. Ich teile ihre Skepsis. Epilog

Im statistischen Jahrbuch der UdSSR 1988 kann man lesen: „Die Lehren der Havarie von Tschernobyl, die von Wissenschaftlern genauestens untersucht wurden, ließen die Schlußfolgerung zu, daß die Kernkraftwerke, nachdem ihre Technologie gründlich durchdacht und ihre Sicherheitsbestimmungen verschärft wurden, keine größere Gefahr darstellen als Wärmekraftwerke...“

In der Woche nach unserer Rückkehr fährt Kohl in die Sowjetunion. In Moskau wird der Vertrag zur Lieferung des ersten HTR-Modul-Reaktors unterzeichnet. Die Bundesrepublik, in der man von der Atomenergie dezent als Übergangsenergie spricht, liefert nun den Reaktor der Zukunft ausgerechnet in das Land, dessen Menschen an Tschernobyl so furchtbar leiden. Sie sind unbeirrt in Ost und West.

Den Tag in der „Zone“ werde ich nie vergessen. Nie zuvor habe ich etwas so Trauriges erlebt oder gesehen. Nachhaltig bedrückt mich das Gefühl, diesem Erlebnis nicht gewachsen zu sein.

Nie finde ich Worte, die wirklich treffen.