Aus dem Bauch der siebziger Jahre

■ Ingvar Ambjörnsens „Weiße Nigger“ / Guter Lesestoff, aber zu glatt erzählt

Für Erling Haefs sind zwei Sachen wichtig: Es sollten immer genügend Drogen greifbar sein und - er will Schriftsteller werden. Eine höhere Schulbildung braucht er dazu nicht, er bricht sie folgerichtig ab. Den Stoff, aus dem seine Jugendträume sind, findet er nicht unter der Schulbank, und die Großen der Literatur - Hamsun, Dostojewski, Ibsen konsumiert er lieber daheim: im Stehen und im Liegen, nur im Gehen geht's leider nicht.

Das alles geschieht in Ingvar Ambjörnsens autobiografischem Roman Weiße Nigger. Es ist der achte des 32 Jahre jungen norwegischen Autors, der mit seiner Ehefrau Gabriele Haefs in Hamburg lebt. Sie übersetzte Weiße Nigger ins Deutsche, Ambjörnsen nennt seinen Romanhelden nach seiner Frau.

Der, Erling Haefs, macht sich auf, die gutbürgerliche Welt hinter sich zu lassen und ein Paria im hohen Norden zu werden, ein weißer Nigger, oder, wie er sagt: „Die personifizierte Kränkung von Moral, Takt und gutem Ton.“

Erlings Haefs wird beides: Ein liebenswerter Paria mit verstecktem Sozialarbeitersyndrom ist er schnell, hin zum Schriftstellerdasein hat er einen längeren Weg zurückzulegen. Seine Weggenossen sind Rita und Charly, die Jugendfreunde, mit denen Erling Haefs schon in der Kinderzeit Pfandflaschen sammelte, um sie in klingende Münze umzuwandeln. Die drei werden im bigotten Norwegen der sechziger und siebziger Jahre groß: Alles nimmt seinen Anfang in Lillevik, einer „hübschen, kleinen Stadt an einem hübschen, kleinen Fjord, von hübschen, kleinen Personen bevölkert, die - mit wenigen ehrenhaften Ausnahmen - mit viel Energie den Horizont bis kurz unter ihre Nase gezogen hatten“. Um seinen Horizont zu erweitern und den Geldbeutel zu füllen, versucht es Erling zusammen mit Charly zuerst als Hilfsarbeiter in Lilleviks Steinwollfabrik.

Sie fühlen sich wohl dort, aber in die Schilderung der Fabrikzeit schleichen sich seltsame Töne ein. Klar, es geht rauh zu in der Fabrik, aber, so erzählt Erling Haefs: „Wenn du einmal mit den Typen eine geraucht und eine herrgottsfrühe Tasse Kaffee geleert hattest, dann gehörtest du zu ihnen, und das ließ dich niemand auch nur eine Sekunde vergessen.“

An Stellen wie dieser stellt sich plötzlich das unangenehme Gefühl ein, daß Ingvar Ambjörnsen in seinem Affront gegen die kleinbürgerlichen Idyllen ab und zu seine Sprache nicht im Griff hat und selbst nicht gefeit ist gegen kleinbürgerliche Sehnsüchte. Eigentlich geht es ihm darum, die Woodstock- und Prä-Punk-Szene der siebziger Jahre zu entmystifizieren. Und er macht das über weite Strecken souverän und lesbar, indem er dem Gegenentwurf der Szene nachspürt. Der heißt: Solidarität, die Solidarität der „Weißen Nigger“. Daß sich diese für zwei der herausragenden Szene-Vertreter durch die herrgottsfrühe Tasse Kaffee einstellt, durch Sentimentalitäten, die man vornehmlich aus der Zigaretten-Werbung kennt, ist ärgerlich. Ambjörnsen schreibt aus dem Bauch der siebziger Jahre und denunziert die damalige Aussteigerszene durch solche Sentimentalität.

Nach Lillevik kommt für Erling Haefs eine mißglückte Gärtnerlehre auf dem öden Land, und danach landet er in der ersten großen Stadt, in Bergen - wieder mit Charly und Rita: Rita macht schon das, was in den Erzählungen der Apo-Väter damals angeblich alle gemacht haben: Sie vögelt frei und unbeschwert. Aber auch für Erling und Charly naht die Nagelprobe. Getreu den Vorstellungen, die man sich von Schriftstellerkarrieren a la Henry Miller oder Bukowski macht, finden sich die beiden bei allem, was sie tun, „unweigerlich in irgendeinem Bett irgendeiner Frau wieder, die sie zuvor nie gesehen hatten“. Sie sind „mit dem Schwanz in der Hand am Tropf“. Aber mittendrin, unvermutet, wird es dann doch ernst mit der Literatur: Charly und Erling schließen sich ein und schreiben bis zum Umfallen, bis zur Entscheidung: Charly ist und bleibt der geborene Lyriker, Erling scheitert zuerst einmal und muß leider umsatteln. Für ihn geht es mit Prosa weiter.

Nach dem Bergen-Intermezzo landet das Dreiergespann endlich in Oslo. Charly findet den ersten Verleger, Erling muß noch etwas warten. Aber der Roman ist dort angelangt, wo er anfing - in der Metropole. Ambjörnsen hat seine Geschichte in einem Atem erzählt, und das überträgt sich: Man kann nicht aufhören zu lesen. Denn die große Stärke des jungen Norwegers ist seine Erzählwut. Er hat eine Unmenge von Geschichten parat und er bringt sie schnörkellos an den Mann. Das ist seine Stärke, eine Stärke, die ihm aber auch Probleme bereitet.

Ambjörnsen wäre dem entkommen, hätte er öfter innegehalten und nicht ausschließlich nur glatt erzählt. Er hat sich viel vorgenommen. „Wartet nur, ich werde Euch noch den Arsch vollschreiben, der ganzen Bande. Aber erst muß ich noch nachsehen, wie diese Leute das schaffen.“ Das sagt Erling Haefs am Anfang seiner Schriftstellerkarriere. Mit den Leuten meint er Hamsun und die anderen Großen der Literatur. Ambjörnsen sollte auch noch einmal etwas genauer hinsehen, wie die das schaffen, vor allem wie sie Sprechhaltung, Rhythmus und Melodie im Erzählen wechseln. Nur der Bande von Spießbürgern den Arsch vollschreiben, das kann Ambjörnsen schon, und das sollte nicht seiner Weisheit letzter Schluß sein.

Jürgen Berger

„Weiße Nigger“ von Ingvar Ambjörnsen erscheint in der Edition Nautilus/Nemo Press. 370 Seiten, 36 DM