Striche im Goldrahmen

■ Eine Ausstellung mit Rembrandt-Zeichungen im Louvre

Zeichnungen sind so etwas wie ein Werkstattgespräch, ein Blick über die Schulter des Künstlers: 76 eigenhändige Blätter Rembrandts und 54 Schülerarbeiten sind im Louvre ausgestellt. Eine beeindruckende Reihe von Experimenten, Entwürfen und Geniestreichen. Aber auch Dokumente der Mühe, der Suche, des Verwerfens. So schnell wird man diese Blätter nicht wieder zu sehen bekommen. Die graphischen Kabinette der Museen reichen ungern ihre Zeichnungen heraus, denn das dünne Papier ist äußerst empfindlich. Und vor allem (was man im Zeitalter der Postkarte leicht vergißt): Zeichnungen gibt es nur einmal. Sie wurden nie vervielfältigt wie etwa Holzschnitte oder Kupferstiche. Sie sind verletzliche Signaturen von Ideen.

1631: Rembrandt, Harmensz. van Rijn (1606-1669) steht am Anfang seiner Karriere. Das Universitätsstudium hat er abgebrochen, um in verschiedenen Orten und Ateliers Wichtigeres zu lernen. Mit 25 Jahren kommt er nach Amsterdam. Aus dieser Zeit stammen die ersten Blätter, lavierte Federzeichnungen. Rembrandt hat eine Vorliebe für alte Gesichter, Greisenköpfe (vielleicht weil sie so lange stillsitzen?).

Ein alter Mann sitzt schwer im Stuhl, wir sehen ihn im Profil. Man kann regelrecht die Minuten zählen, die Rembrandt für diese Skizze brauchte, vielleicht zwei, höchstens drei. Eine schnell geführte Feder. Je stärker der Druck auf die Federspitze, desto mehr Tinte auf dem Blatt, desto dunkler und breiter die Linien. Das Produkt eines Augenblicks hängt jetzt im erlesenen Goldrahmen, Endstation eines langen Weges, der in irgendeiner Großstadtecke Amsterdams begann, wo Rembrandt den Alten entdeckte.

Zwei Schritte weiter Der nachdenkliche Apostel Paulus. Das farbige Blatt würde postmoderne Sehwünsche glatt befriedigen, denn seine Komposition spielt mit dem Dreieck, dem magischen Zeichen unserer Tage. Auf der Diagonalen inszeniert Rembrandt den Vorgang des Schreibens. Paulus, mit vorgebeugten wuchtigen Schultern, stützt den Arm auf den Schreibtisch. Da liegt das aufgeschlagene Buch. Der Apostel hält die Feder zwischen den Fingern: Er schreibt gerade die Bibel. Die Körperkonturen sind nur angedeutet, die Feinheit der Linien ist im Gesicht konzentriert: tiefe Falten und hohe Stirn. Die schmalen Augen sind unübersehbar verquollen. So sieht man eben aus nach langer Schreibtischarbeit.

Vermutlich hatte Rembrandt einen alten Schreibmeister zum Modell. In einer Zeit verbreiteten Analphabetentums waren Schreiber gesuchte Spezialisten, in Amsterdam um so mehr, weil die Handelsmetropole den Ausbau der Schriftkultur provozierte. Rembrandt denkt sozial. Wenn er einen religiös konzentrierten Apostel zeichnet, orientiert er sich an gegenwärtigen Berufstypen. Die Wirklichkeit kommt ins Bild. Das ist im 17.Jahrhundert neu: Der barocke Regelkanon sieht für Apostel verklärte Augen vor, nicht verquollene.

1640: Rembrandt hat Erfolg, er leitet inzwischen einen großen Werkstattbetrieb. Die Zeichnung eines Schülers schildert, wie es dort zugeht. Ein junger Mann arbeitet am Porträt eines Ehepaares. Sie sitzt, der Mann steht: die Geschlechterdifferenz im Atelier. Der Mann beugt sich neugierig vor, um nach seinem Abbild zu sehen. Daneben ein zweiter zeichnender Geselle. Die Atelierwände sind behängt mit schweren Stoffen, die man als Vorlagen für großformatige Historienschinken nutzte. Im Hintergrund ein Junge, der Farben anrührt.

Kunst, das ist erst einmal Handwerk, sagt die Zeichung. Sie wird produziert in einem gewöhnlichen Werkstattraum, wo man lärmig und ertragreich arbeitet.

Die betuchten Amsterdamer Bürger kamen in Rembrandts Atelier, weil er berühmt war für seine Porträts. Das Porträt ist eine heikle Sache: Verschönt der Künstler zu stark, erkennt der Kunde sich nicht wieder. Verschönt er zu wenig, will sich der Kunde auch nicht wiedererkennen. Rembrandt löst das Problem, indem er allen Bildnissen einen repräsentativen Grundanstrich gibt. Das schuldet er seiner Klientel. Vor diesem Hintergrund schafft er Charakterköpfe. Er versorgt die Amsterdamer Oberschicht mit Porträts, die genügend charakteristisch scheinen, daß die Besitzer sich ihrer vergewissern können. Rembrandt verleiht der Patrizierelite eine Lebendigkeit, die ihre Mitglieder vermutlich nie besaßen.

Die Vorstudie zu einem Gemälde zeigt den populären Prediger Anslo (1592-1646) nach der Art des Berufsporträts, das die Intimität eines unbeobachteten Moments vortäuscht. Anslo wendet sich an ein imaginäres Publikum, er bereitet in Gedanken eine Predigt vor: der Blick leicht entrückt, die Hand ausgestreckt. Das Blatt brach damals eine Art Medienstreit vom Zaun. Autoren meldeten sich zu Wort, die den Vorrang der Schrift- vor der Bildkultur einklagten. Man könne den Rhetoriker und Wortspezialisten Anslo nur beschreiben, nicht malen, empörten sie sich. Der Konflikt war Ausdruck des harten Konkurrenzkampfes im Holland des 17.Jahrhunderts zwischen Literatur und Malerei, die um ihre Auftraggeber feilschten.

Völlige Ratlosigkeit herrscht in der Forschung über ein Blatt aus dem Spätwerk Rembrandts, es gehört zu den packendsten Blättern der Ausstellung. Eigentlich nichts weiter: Ein Junge, der in seiner rechten Hand eine Blume hält. Rätselhaft und einfach schön. Die Gelehrten tippen auf das Porträt eines Unbekannten und spekulieren über eine Allegorie auf die Jugend (Ein alter Trick der Kunstgeschichte: Wenn man nicht weiß, wer es ist, spricht man von Allegorie.). Rembrandt brilliert hier in so etwas wie Minimal-Art. Ihm genügt nun ein Minimum an Strichen, Schraffuren und getuschten Partien. Tinte und Tusche sind so stark verdünnt, daß der Papiergrund durchscheint. Blume und Hand sind weiß gehöht - wir lesen das als Licht. Der alte Rembrandt spielt mit der Wahrnehmung und experimentiert, wie weit er einen Körper in Licht und Form auflösen kann. Ein solch gewagtes Spiel ist nur im Medium der Zeichnung möglich. Für Gemälde konservieren die Sehnormen des öffentlichen Blickes viel stärker traditionelle Darstellungsweisen.

Am Kuhschädel sind schon viele Meister gestrandet. Rembrandt, so zeigt eine weitere Zeichnung, reiht sich hier ein. Problematisch auch die unproportionierten Schweine. In einer Federstudie versucht er, ihre ungelenken Bewegungen und schwierigen Lagen wiederzugeben. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Ameisenbär und Schäferhund; das Tier blickt griesgrämig und leicht gequält, als denke es an seine bevorstehende Schlachtung. Ich bin sicher, Rembrandt war ein heimlicher Karikaturist.

Was die Entdeckung der Natur für die Malerei angeht, gilt er als eine Art Christoph Kolumbus. Daß eine Hecke oder eine Wolke für sich allein ein Gemälde wert sind, wird zwar noch 200 Jahre dauern: Solange bleibt der öffentliche Blick auf sogenannte bedeutungsvolle Objekte fixiert. Aber Rembrandt unterwandert dieses latente Bilderverbot, indem er die Natur als Motivquelle ausbeutet.

Die Erinnerungsnotizen von Spaziergängen an der Amstel (wo Rembrandt topographisch so genau war, daß man die Flußbiegungen noch heute wiedererkennen kann) gehören zu den schönsten Blättern. Mit feinen Tintenstrichen gibt er die Spiegelung des Lichtes auf den Kanälen wieder. Das Ufer ist von Bäumen gesäumt, die Laubkronen werfen Schatten auf das Wasser. Leichte Tuschen erzeugen zarte Abstufungen der Helligkeit. Die Natur scheint lichtgesättigt und nahe: Wenige Zentimeter Papier, die die Geschichte der wahrgenommenen Landschaft revolutionieren.

Vergleicht man Schüler- und Meisterarbeiten, merkt man schnell: Nachahmung des Chefs herrscht vor. Man muß das richtig sehen. Wer in der Werkstatt eines Meisters arbeiten wollte, hatte sich seinem Stil anzupassen - schließlich malten beide häufig an einem Bild, wenn auch an verschieden wichtigen Stellen.

In wenigen Wochen verschwinden die seltenen Blätter in den unzugänglichen Schubladen der Graphischen Kabinette, wo sie eine Art unsichtbares soziales Gedächtnis bilden, das unsichtbar bleibt. Die Ausstellung gibt dem öffentlichen Blick Auskunft über seine Geschichte. Diese Blätter haben ihren Goldrahmen verdient.

Jan Nicolaisen

Louvre, Paris, bis zum 30.1.1989, Katalog 131 Seiten, 85 Francs