Nachricht aus Moskau

■ 1941 berichtete Curzio Malaparte für den 'Corriere della Sera‘ vom Rußlandfeldzug. Heiner Müller hat für die Neuausgabe das folgende Vorwort geschrieben. Wir danken dem Verlag Kiepenheuer & Witsch für die freundlich erteilte Abdruckgenehmigung

Heiner Müller

Ich las Malapartes Berichte von der ukrainischen und von der Leningrader Front, geschrieben Juni bis September 1941 für den 'Corriere‘ (der Zufall beziehungsweise das Interesse von Freunden für mein Interesse am Zweiten Weltkrieg wehte mir die vergriffene Stahlberg-Ausgabe von 1967 auf den Tisch), zum erstenmal vor zwei Jahren in der DDR und noch einmal in diesem Jahr während eines Aufenthalts in Moskau. Zwei verschiedene Lektüren vor dem Hintergrund von zwei verschiedenen Erfahrungen. In der DDR ein Text der Aufklärung über einen vom Konsens des Arbeiter und Bauernstaats verdrängten Aspekt des Zweiten Weltkriegs, zuerst von Karl Korsch in einem Brief an Brecht formuliert mit seiner These vom Blitzkrieg als gebündelter linker Energie. Malaparte beschreibt den Krieg in Rußland bzw. die erste Phase des scheinbar nicht aufzuhaltenden deutschen Vormarschs, als einen Krieg von zwei Arbeiterarmeen, definiert durch das Verhältnis des Arbeiters zur Maschine, das auch seine Moral bestimmt: Sie fällt zusammen mit der Präzision der Arbeit, der Krieg ist eine Produktion. Die motorisierten Verbände, Kruppwerke auf Rädern, schneiden Segmente aus der gegnerischen Landschaft, die von den nachrückenden Truppen bearbeitet werden, eine Operation im Wortsinn, Teamwork, die Bomber besorgen die Anästhesie. Die Arbeitermoral der Panzerbesatzungen scheint, in Malapartes Beschreibung, dem Krieg etwas von dem Duellcharakter wiederzugeben, der auf der Aussparung der Zivilisten beruhte, die mit dem Volkskrieg, Errungenschaft und Konsequenz der Französischen Revolution, aufgehört hatte. Ein Nachbild von Legenden über die Ritter der Luft des Ersten Weltkrieges in Lesebüchern der Hitlerzeit. Der nostalgische Ton des Berichterstatters verrät seine Ahnung von der Kurzlebigkeit der Illusion: Aus den Rittern der Luft wurden die Mörder von Guernica, die Industrialisierung des Krieges als Fortsetzung der Ökonomie mit andern (militärischen) Mitteln führte, über die totale Verwertung der Arbeitskraft in den Konzentrationslagern, zur Aufhebung der Produktion in der Vernichtung, Auschwitz ein Industrieprodukt. In der Episode mit dem gefangnen Kommissar, der seinen Genossen befiehlt, ihn zu töten, erscheint die Differenz: die andere Moral der anderen Arbeiterarmee, ein andres Verhältnis zum Tod, das aus einem anderen Traum vom Leben kommt, ein andrer Begriff von Arbeit, der den Tod einschließt. Und als aus den Wäldern vor Moskau, die Deutschen halten die Rote Armee für geschlagen, die ersten sibirischen Regimenter auftauchen, beginnt ein anderer Krieg. In Moskau eine kältere Lektüre: vor den Wallstreetkopien der Stalinarchitektur, verfremdet mit der Ornamentik von Zeltgiebeln, zwischen denen die russischen Häuser und Kirchen sich ducken, dumpf die Häuser, heimlich strahlend die Kirchen, die mit der Rückkehr der Ikonen drohen, die Malaparte in der Ukraine gesehn hat, vor den Heerstraßen, imperial und richtungslos zugleich durch eine Stadt geschlagen, die von den Tartarenstürmen gelernt hat, ein Provisorium zu sein, nomadisch, auf dem Sprung, Napoleons Erfahrung, aus der Hitler, irgendeinem Gott sei Dank, nichts gelernt hat, verblaßt Malapartes Titelthese Die Wolga entspringt in Europa zur romantischen Floskel, bedingt durch sein Dilemma des europäischen (Links) Intellektuellen, zwischen seiner Sympathie für das bolschewistische Experiment und dem Dienst nach Vorschrift, den er immerhin so schlecht und subversiv versah, daß Goebbels im September 1941 seine Abberufung von der russischen Front verlangte. Im Blick auf die Spielzeugfassade des Kreml, auf das befremdlich kleine Mausoleum des unfreiwilligen Pharao, Lenin, der assimilierte, an Rußland gescheiterte Römer, von Stalin byzantinisch eingeschreint, scheint eine andre Wahrheit auf: Wir sind zwei Europa, das eine von Rom, das andere von Byzanz geprägt. In der schwierigen Balance auf dem Grenzriß warten Polen, Ungarn, die CSSR und die DDR auf ihre (eigene) Geschichte, während in Moskau eine Bevölkerung, geprägt bis in die Grobheit der Umgangsformen, im Alltag auf der Straße oder in der Metro, von siebzig Jahren Welt- und Bürgerkrieg, oder, Carl Schmitt zu Ehren, vom Weltbürgerkrieg, gerüttelt jetzt von den Wiedergeburtskrämpfen der Perestroika, auf dem Rücken der Alp toter Geschlechter, den Frieden probt. Fragen: Hat Stalin, durch eine Kette von Fehlentscheidungen, deren eine die andre nachzog: vom Pakt mit der Reichswehr zur Dezimierung des eigenen Offizierskorps, vom schiefen Feindbild der Komintern zum Nichtangriffspakt, den deutschen Vormarsch verschuldet, ober bewußt in Kauf genommen, und gebraucht, als Pferdekur gegen die Krankheit des Sozialismus in einem Land, der die Kolonisierung der eignen Bevölkerung bedingt, der Einsatz die Zeitreserve von Rußlands asiatischem Riesenrücken, sein Irrtum der Kriegskommunismus, das Denken in militärischen Kategorien, die mit der Generalprobe des Atomkriegs gegen das besiegte Japan außer Kraft gesetzt wurden, Hiroshima das Ende der Kriegskunst. In Moskau Leise und unerträglich die deprimierende Wahrheit: Japan und die Bundesrepublik sind die wirklichen Sieger des Zweiten Weltkriegs, gesund geschrumpft durch Expansion, so wie die USA die Sieger des Vietnamkriegs, der militärische Aspekt von Sieg und Niederlage nur noch Schauwert für die Medien, das Fernsehn übernimmt den Krieg und hinter dem Spektakel unsichtbar die Kapitalbewegung, die Zukunft nicht braucht, sondern verwertet für die totale Umwandlung der Zeit in Gegenwart, die Revolution, die ihre Kinder frißt, nur seine Parodie, entsprechend ihren in der bisherigen Geschichte immer noch unreifen Bedingungen.

Die Körper haben eine Zeit, die Maschinen haben eine andere. Die Chance der Unterentwicklung, von Lenin wie von Peter dem Großen verpaßt, ist die Hochzeit von Mensch und Maschine. Der Schrei nach der wirklichen Revolution, in Babels Erzählungen aus dem Bürgerkrieg, erstickt von Bürokratien im Clinch von Revolution und Konterrevolution, der Grundfigur des Jahrhunderts, wird laut, nach stummen Jahrzehnten, in Gorbatschows Weigerung, das Endspiel mitzuspielen, das letzte Spektakel, an dem nur die Medien, emanzipiert von der Menschheit, interessiert sind; der Zuschauer nicht mehr braucht.

Januar 1989

Curzio Malaparte: Die Wolga entspringt in Europa. Aus dem Italienischen von Hellmuth Ludwig. Mit einem Vorwort von Heiner Müller. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 272 S., 18.80 DM