Wer bezahlt Therapien?

■ Nach achtjährigem Hin und Her werden jetzt 30 Verfahren nach den antiqiierten Gesetzen von 1911 vor dem Bremer Sozialgericht entschieden

Wer unter unerträglichen und schulmedizinisch nicht kurierbaren Magenschmerzen leidet oder wer sich in tiefer Depression durchs Leben schleppt, ist nach inzwischen weitverbreiteter Erkenntnis psychisch krank und braucht Behandlung. 1911, als in der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Gesundheitsversorgung geregelt wurde, gehörte das noch nicht zum Allgemeinwissen. Das Monopol hatten die ÄrztInnen - bis heute. Von Bremen wurde vor acht Jahren versucht, an dieser antiquierten Regelung etwas zu ändern das Ergebnis liegt jetzt vor.

Pia S. ist Anfang der achtziger Jahre in eine schwere Depression gerutscht. Die Krankenkassen bezahlen nur, wenn die TherapeutIn MedizinerIn ist oder zu den PsychologInnen gehört, die bereit sind, als „Heilhilfsper sonen“ unselbständig und unter ärztlicher Aufsicht zu therapieren. Pia S. ging zu einem Therapeuten ihres Vertrauens, der allerdings weder Arzt noch Heilhilfsperson war. Die Barmer Ersatzkasse (BEK) verweigerte die Kostenübernahme.

Da verklagte Pia S. ihre Kasse auf Kostenübernahme. Das war 1984. Für ihre Therapie hat Pia S. bis heute 25.000 Mark aus eigener Tasche bezahlt. Inzwischen warten beim Sozialgericht rund 30 derartige Klagen auf eine Entscheidung.

Diese Verzögerung hat ihren Grund. Bereits Ende der siebziger Jahre haben zwei Bremerinnen auf Bezahlung ihrer Psychotherapien geklagt. Das Sozialgericht hatte abgelehnt, die Fälle waren zur Berufung in die nächste Instanz ans Landessozialgericht (LSG) gegangen. Das LSG reichte die beiden Fälle 1980 und 1981 ohne zu entscheiden weiter ans Bundesverfassungsgericht (BVG). „Das geltende Recht hat versagt und ist verfassungswidrig“, begründet der LSG-Präsident Dr. Ruprecht Großmann den Gang nach Karlsruhe - als zweitbeste Lösung.

Die beste Lösung wäre laut Großmann, wenn endlich auch die GesetzgeberInnen erkennen, daß das ärztliche Monopol in der RVO nicht mehr heutigen Erkenntnissen entspricht. Das Bonner Parlament müßte dann ein Berufsgesetz für PsychlogInnen ausarbeiten, das ähnlich wie bei ÄrztInnen und ZahnärztInnen regelt, wer sich mit der Berufsbezeichnung schmücken und seine Tätigkeit über die Kassen abrechnen darf. Das sei allerdings, so Großmann, „ein Projekt für hundert Jahre“, zumal „die Lobby der Ärzte zu stark ist, als daß die Psychologen gleichberichtigt behandelt werden“.

Da nun der Gesetzgeber keine Anstalten macht, die RVO zu ändern, wäre laut Großmann die zweitbeste Lösung, das veraltete Leistungssystem für verfassungswidrig zu erklären, um eine Neuregelung zu erzwingen. Das kann allein das BVG. Karlsruhe hat nun

am 10. Mai 1988, acht Jahre nach dem Eingang der Bremer Vorlage, das Bremer Landessozialgericht gerüffelt, es habe „unzulässig“ gehandelt, als es den Obersten RichterInnen den Fall zur Entscheidung vorgelegte. Jetzt muß das LSG doch selbst entscheiden. Im Laufe des Jahres wird Großmanns Kammer nun nach geltendem 1911er Recht urteilen - und das heißt nicht zugunsten der Klägerinnen, die eine Kostenerstattung für ihre Therapien verlangen.

Nach der Zurückweisung aus Karlsruhe wurden inzwischen sechs der rund 30 Fälle entschieden, die in erster Instanz beim Bremer Sozialgericht liegen. Auch dessen Chefin Barbara Buhl kritisiert die Untätigkeit des Gesetzgebers. Sie ist aber im Unterschied zu ihrem Kollegen Großmann nicht der Auffassung, daß

die geltende Regelung verfassungswidrig sei. Wer sich also nicht zuerst von einer Medizinerin untersuchen und von ihr dann zu einer der wenigen psychologischen Heilhilfspersonen „delegieren“ läßt, hat bei Richterin Buhl keine Chance. Sie werde allerdings prüfen, ob in Einzelfällen die Krankenkassen falsch beraten hätten.

Pia S. ist eine der sechs, die gerade ihr ablehnendes Urteil vom Sozialgericht bekommen haben. Aus „prozeßökonomischen Gründen“ will Barbara Buhl mit den nächsten zwei Dutzend Urteilen noch abwarten, ob jemand von den Sechs zum Landessozialgericht geht und was Richter Großmann und seine KollegInnen mit der Berufung machen werden. Ruprecht Großmann wird also demnächst mit Pia S. Bekanntschaft machen.

Gaby Mayr