Nationale Vaterfigur

■ Zur Wiederwahl des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker

GASTKOMMENTAR

Wenn wir den Stimmen vertrauen wollen, die hierzulande beanspruchen, kritische Instanzen zu sein, dann können wir uns zurücklehnen und die Wiederwahl Weizsäckers quittierend zur Kenntnis nehmen. Mit ihm werden wir auch in der bevorstehenden Amtsperiode einen Mann an der Spitze des Staates haben, der weder singen noch wandern muß, um die Akzeptanz seiner Repräsentationsrolle noch halten zu können. Es ist müßig, all jene Aspekte zu skizzieren, aus denen sich das Wunschbild zusammensetzt, das er offenbar für das politische Spektrum fast ausnahmslos personifiziert. Mit ihm scheint die politische Imago einer konservativ genährten Mitte, die den Linksliberalismus für anschlußfähig hält und sich auch nicht für ein paternalistisches Wort zum Schutze von Minderheiten zu schade ist, dieses Ganzheit stiftende Bild eines gerechten Vaters Wirklichkeit geworden zu sein. Was will man mehr? Eines natürlich: daß dieser Mann Kanzler wird und seine Fähigkeiten dort einbringt, wo sie auch wirksam werden können. Dieser Wunschtraum jedoch, den der 'Spiegel‘ auch gestern wieder einmal anklingen ließ, dürfte nicht mehr ganz so viele Befürworter finden. Denn es ist nicht verkehrt, in Weizsäcker keine Gegenfigur, sondern eine Ergänzung des (noch) amtierenden Kanzlers zu sehen. Er muß Kohl indirekt widersprechen, um dessen Unfähigkeit wenn auch nicht kompensieren, so doch symbolisch überdecken zu können. Die Funktion des Präsidenten bestünde so gesehen in einer idealisierenden Überhöhung der neokonservativen Regierungspraxis. Weizsäcker wäre ein Politiker des Als Ob und insofern eine Idealbesetzung für das Amt des Präsidenten.

Damit ist allerdings noch nicht gesagt, was er politisch verkörpert, wofür er einsteht. Weizsäcker hat es nicht zuletzt durch seine Rede zum 8.Mai vermocht, den Patriotismus in einer Form salonfähig zu machen, den man als „Nationalismus minus Hitler“ bezeichnen muß. Gerade in dieser Hinsicht wird seine die Parteien überspannende Integrationsfähigkeit kaum wahrgenommen. Mit der Reaktivierung der distanziert väterlichen Zügel in diesem Amt, populär sein zu können, ohne populistisch werden zu müssen, ist es gelungen, das geopolitische Bekenntnis, wir seien in Europa „nach wie vor Mitte“, selbstverständlich klingen zu lassen. Mit Theodor Heuss hatten wir den jovialen Großvater, mit Gustav Heinemann den staatstragend gewordenen Beinahe-Oppositionellen und mit Richard von Weizsäcker hatten und haben wir eine nationale Vaterfigur. Und in dieser Funktion könnte es vielleicht doch nicht nur beim Als Ob bleiben.

Wolfgang Kraushaar (Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung)