Die Macht der Gewehrläufe beendet die Pekinger Kommune

■ Tausende von Toten und Verwundete, als die "Volksbefreiungsarmee" das Feuer auf Pekings demonstrierende Bevölkerung eröffnet

Gerade wird die gestrige Ausgabe der englischsprachigen 'China Daily‘ unter der Tür durchgeschoben. Schlagzeile: „Tourismus ist normal in China.“ Mein Gott! Während ich hier schreibe, wird im Nebenzimmer geschluchzt. Während ich hier tippe, liegt ein toter Student auf dem Campus. Während ich hier zu formulieren versuche, werden auf dem Platz des Himmlischen Friedens Leichen verbrannt. Nach Angaben des Roten Kreuzes sollen auf dem Tiananmen- Platz 2.400 Menschen getötet worden sein. Unbewaffnet waren sie von Panzern niedergerollt, von Maschinengewehrsalven massakriert worden. Überall und immer wieder dieselben Reaktionen: unfaßbar, alles unfaßbar! Ist die Regierung wahnsinnig geworden? Sind die Soldaten durchgedreht?

Samstag abend um 19.00 Uhr wurde in Rundfunk und Fernsehen ein sehr scharfer Ton angeschlagen: „Soldaten, die aufgehalten werden, werden schießen. Der Tiananmen-Platz wird mit Einsatz aller verfügbaren Mittel geräumt.“ Durch den Studentenrundfunk wurde bekanntgegeben, etwa eine Million Menschen seien auf dem Tiananmen-Platz versammelt. Mit einigen chinesischen Bekannten diskutierte ich: Wird die Armee schießen? Einhellige Antwort aller: Nein! Man rechnete mit Tränengas, man rechnete mit Schlagstockeinsätzen. Eine solch bestialische Niedermetzelung hatte niemand erwartet.

Am Sonntag früh wurden wir um 6 Uhr durch das Telefon geweckt: Der Tiananmen wird geräumt! Nichts weiter. Um 7 Uhr hören wir BBC und können kaum glauben, was da berichtet wird. Ein Student taucht auf, verwundet, zurück von der Stadtmitte. Hunderte umringen ihn, allmählich sickern Augenzeugenberichte durch: daß die Panzer in S-Kurven über den Platz gefegt sind, daß sie einfach über die Zelte hinwegfuhren, daß willkürlich in die Menge geschossen wurde, mehrere Salven Maschinengewehrfeuer. Daß die Soldaten fliehenden Studenten in den Rücken geschossen haben und daß Leute, die mit den Soldaten reden wollten und auf sie zugingen, kaltblütig erschossen worden sind.

Einige Studenten auf dem Campus haben Weinkrämpfe. „Unmenschlich ist das“, hört man immer wieder. „Unmenschlich!“. Dazwischen Anrufe bei Bekannten. Was wißt ihr Neues? Eine deutsche Kollegin ist mit ihrem Auto in eine Schießerei geraten. Sie hat ihren Wagen schnell gewendet und ist mit hoher Geschwindigkeit vor den herannahenden Militärfahrzeugen geflüchtet. Die deutsche Botschaft ruft an und empfiehlt, den Campus heute nicht zu verlassen. Auf dem Campus stehen Hunderte von Menschen, bedrückt, weinend. Aufschreie, Schluchzen. Ein toter Mann wird auf den Campus getragen. Nein, es ist kein Student von uns. In der allgemeinen Aufregung gelingt es mir nicht, herauszufinden, wie diese Leiche auf den Campus gelangt ist. Wenig später ein Fahrradkarren mit der Leiche eines Kindes, ein neunjähriger Junge, der gestern kurz vor Mitternacht erschossen wurde - nicht auf dem Tiananmen-Platz, sondern am Fuxing-Tor, wo sich Soldaten gerade den Weg durch die Menge schossen. Fährt man die Leiche des Kindes herum, um allen zu zeigen, welche Ungeheuerlichkeiten geschehen sind?

Wieder Meldungen vom Studentenrundfunk: Erneutes Schießen auf der Changan Straße, zwischen dem Platz des Himmlischen Friedens und dem Peking-Hotel. Was berichten die chinesischen Nachrichten? Der große Sieg der Volksbefreiungsarmee wird gefeiert. „Die kriminellen Elemente, die Verbrecher sind vom Platz gefegt. Die Konterrevolution ist zerschlagen.“

Das Telefon funktioniert noch in der chinesischen Hauptstadt. Ins Ausland kann man nicht mehr telefonieren. Man kann nur angerufen werden. Die deutsche Botschaft versuchte bislang vergebens, mit den deutschen Studenten in der Peking-Universität Kontakt aufzunehmen. Sie möchte sie ins nahegelegene Freundschafts-Hotel evakuieren. Man befürchtet eine militärische Okkupation der Hochschulen und geht davon aus, daß dann die Lage in der Peking-Universität gefährlich werden könnte. Die deutschen Studenten der Fremdsprachenhochschulen beschließen einstimmig, auf dem Campus zu bleiben. Die deutsche Schule bleibt am Montag geschlossen.

Es ist Sonntag nachmittag: Ich fahre mit dem Rad in der Umgebung meines Instituts herum. Nur wenige Menschen sind auf den Straßen. Fast alle Geschäfte sind geschlossen. Zufällig treffe ich einen Deutschen, der hier einen Chinesisch-Kurs besucht. Er kommt gerade vom Platz des Himmlischen Friedens zurück. Mit dem Fahrrad komme man noch durch, aber er habe ausgebrannte Busse und Armeefahrzeuge gesehen. Am Tiananmen sei es ruhig, die Soldaten säßen vor dem Platz, Gesichter nach außen. Die Bevölkerung habe sich in geringer Entfernung hinter Barrikaden zurückgezogen.

Dann wieder Berichte vom Massaker frühmorgens. Die Soldaten hätten willkürlich in die kleinen Pekinger Gassen, und in Wohnungen geschossen. Alte Frauen seien tot, Kinder seien tot, alte Männer, die aus ihren Häusern kamen, um ihr allmorgendliches Schattenboxen zu machen, seien erschossen worden. In Peking herrscht Terror, nackter, brutaler Terror.

Der studentische Nachrichtensender hat seine Sendungen eingestellt. Da man auch bei uns mit einer möglichen militärischen Besetzung des Campus‘ rechnet, sind wir vorsichtig. Das Peking-Hotel, so wird berichtet, ist gestern nacht von Soldaten gestürmt, jedes einzelne Zimmer durchwühlt worden. Filme seien den Hotelgästen entrissen worden.

Angst grassiert auch unter den Ausländern. Angst vor den Soldaten, vor willkürlichen Schüssen. Ist das die Ordnung, die die Regierung wollte? Welch brutales Erwachen, welch brutaler Tod für alle die Studenten, die bis um Schluß an die Kraft des gewaltfreien Widerstandes geglaubt hatten. Was ist mit Hou De Jian passiert, dem berühmten Popsänger und Komponisten, der vorgestern mit einem neuen Hungerstreik unter dem Denkmal der Volkshelden begonnen hatte. Bevor der Studentenrundfunk dichtmachte, wurde als letzter Programmpunkt sein Lied Nachkommen des Drachen gespielt, jahrelang ein Hit in China. Die Arbeiter sind für Montag zum Streik aufgerufen. Wie werden sie reagieren? Die Menschen hier stehen unter Schockwirkung. Man weiß nicht, was morgen wird. Während ich weitertippe, versammeln sich die Studenten auf dem Campus zu einer Trauerfeier. Alle tragen sie schwarze Armbinden... Woher Hoffnung nehmen?

Volker Lippholz, Peking